Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


2.4.1.2.2 Schleuderkette oder rotierendes Seil

Was für eine Kurve beschriebt ein um zwei feste End-Punkte rotierendes (in Ruhe schlaffes) Seil oder eine ebensolche geschleuderte Kette?

(Meine Frau fragte mich das gestern, als ich ihr vom Katenoid erzählte…)

Wie es immer vernünftig ist, um Erfahrung zu sammeln, so äußern wir erst eine Vermutung und vergleichen dann mit den Ergebnissen.

Modell: Eine Kette aus gleich schweren und starren, aber mit kraftfrei drehbaren Scharnier-Gliedern wird an ihren Enden (diese zueinander näher als die Gesamtlänge der Kette) aufgehängt und um die Verbindungslinie der Aufhängungen in Rotation versetzt (geschleudert wie ein Springseil). Sie hängt nun in einer offenbar eindeutig eingestellten Kurve „durch“, die bei der Vernachlässigung der Schwerkraft drehwinkelunabhängig ist und bei langer „Belichtung“ einen Rotationskörper beschreibt.

1. Im Unterschied zur Kettenlinie, wo eine konstante Kraft auf jedes Element wirkt (die als ortsunabhängig angenommene Schwerkraft), ist jetzt die Zentrifugalkraft zuständig, und die ist bei gegebener Drehfrequenz („Winkelgeschwindigkeit“) radiusabhängig. Dadurch ergibt sich aus einer fast beliebigen Anfangskurve eine rückgekoppelte sukzessive Einstellung der Endkurve, die „spitzer“ als die Kettenlinie sein sollte.

2. Im Unterschied zur Schwerkraft-Parabel bei senkrechter Schienenführung der Glieder sollte sich durch das mögliche seitliche Ausweichen ebenfalls eine andere Kurve entwickeln, aber welche?

Wir sind gespannt:

Der erste Versuch ist gescheitert, denn eine Zickzacklinie kann auch zeitweilig stabil sein! Diese hier hat aber noch offenbar seitlich wirkende Programmierfehler. Also: Eindeutige Startpositionen schaffen.

Die Variablen für das Modell sind übrigens: Anzahl der Glieder, Überlänge der Kette in Bezug auf die Aufhängungspunkte (damit sich die Kette überhaupt „ausbeulen“ kann), Federkonstante (die hochgefahren werden kann bis zur Starre) und die numerischen Variablen wie Zeittaktdauer und Taktanzahl. Die Startpositionen der Kette werden im Diagramm (mit falscher Gesamt-Länge…) rot eingeblendet:

Bewegung aller Teilchen

flache Endkurve mit Vergleichswerten


Bevor ich diese Bildchen hatte, wäre ich fast verzweifelt, weil trotz hochgefahrener Federkonstante die Federn alle unterschiedlich lang waren. Himmel!! Nach vielen überflüssigen Korrekturversuchen kam mir plötzlich die Erleuchtung, dass ich die Achsen nicht beschriftet hatte und die Ordinate zehnfach überhöht dargestellt worden war. Da mussten die schrägen Federn natürlich überlang erscheinen… … …

Rechts also der Vergleich mit einer ausgewählten Potenzfunktion (Anpassung iterativ dauert etwas!) und der passenden Kettenlinie. Und siehe da, unsere Vermutung war richtig: Die Schleuderkurve ist spitzer als die quadratische Parabel und spitzer als die Kettenlinie. (Die binomische Trendlinienformel ist hier für uns Laien etwas irreführend, weil die Kurve nicht symmetrisch dargestellt ist.)

Zum Vergleich eine etwas verlängerte Kette, damit die anderen Kurven sich deutlicher abheben, und außerdem dazu auch noch eine gedehnte Darstellung (nun sind die Glieder wieder unterschiedlich lang, aber diesmal mit guter Absicht):

Bewegung der Glieder

1:1-Darstellung

überhöht


Rein analytisch kann man die Kurven mit einer Serie von Potenzfunktionen vergleichen und sehen, dass je nach Bereichs-Wahl die Kettenlinie mehr oder weniger schlecht mit einer einzelnen Potenz beschrieben werden kann:

Variante 1

Variante 2


Nun müssen wir nur noch suchen, ob das irgendjemand anderes im IN schon analytisch gelöst hat und mit unseren Ergebnisse vergleichen…

Nichts gefunden außer studentischen (?) Zweifeln an folgender Seite (Bestandteil eines wunderbaren Projektes!):

https://mo.mathematik.uni-stuttgart.de/inhalt/beispiel/beispiel473/

(Zugriff auf das „Mathematik-Online-Lexikon“ am 12.11.2023 7:24 Uhr)

auf der tatsächlich eine falsche Erläuterung des Diagramms beider Kurven steht!! (Ich vermute hier eine einfache Verwechslung beider Kurven im Text…)

In der die o.g. Zweifel anbringenden Debatte von 2011 auf

https://www.onlinemathe.de/forum/Rotierendes-Springseil

(Zugriff ebenfalls am 12.11.2023 7:24 Uhr)

kommt aber dann eine Lösung von „Anonymus“:

Auch ich hatte mein Programm verfeinert, um zu zeigen, dass es beide Fälle abbilden kann (ich habe die Potenz des Rotations-Kraftgesetzes – also der Zentrifugalkraft – als eine zusätzliche Variable eingeführt: bei Potenz=0 ist sie konstant wie die Schwerkraft und müsste zur Kettenlinie führen): rotierendes Seil und Kettenlinie.

Und siehe da, es funktioniert. Hier der Vergleich beider Fälle:

Konstante Kraft: identisch mit Kettenlinie

Rotierend: spitzer als Kettenlinie gleichen Scheitels

spitzer als Kettenlinie gleicher Länge


Man beachte beim Nachmessen, dass die Diagramme überhöht sind. Hier das nicht gestauchte Diagramm für Linien gleicher Länge:

Es ist mir also wieder ein schönes Beispiel gelungen, wie man mit der dynamischen Annäherung (gedämpfte Schwingung!!) eines gewählten Ausgangszustands an den Gleichgewichtszustand physikalisch-geometrische Zusammenhänge (meine Hobby-„Strukturen“ eben) darstellen kann, ohne analytische Kopfstände (Tricks) machen zu müssen.

Dank an meine Frau für die hervorragende Anregung!

Kommentare

Sebastian am Freitag, 2. Februar 2024:

Welche Geschwindigkeit hat denn die Schleuderkette (oder auch Springseil) an ihrem Scheitelpunkt, wenn man sie an ihren Aufhängepunkten mit (fast) Lichtgeschwindigkeit rotieren lässt?

Hochglanzgrüße aus der Neustadt 😉

Joachim Adolphi am Freitag, 2. Februar 2024:

Hallo Sebastian,

leider ist Deine Frage ungenau gestellt: Wie rotiert man mit einer Geschwindigkeit? Winkelgeschwindigkeit mal Radius? Wenn das so gemeint ist, ist der weitere Abstand (Zusatzradius) zwischen Aufhängung und Scheitelpunkt interessant. Da die Kette unter relativistischen Bedingungen sämtliche dynamischen Größen verändert, wird sich auch ihre Form ändern, die wir als ruhende Beobachter „verschmiert“ registrieren könnten. An dieser Stelle passe ich, weil ich den Aufwand zur relativistischen Berechnung scheue.

Deine modernen Stadtkisten hatten heute jedenfalls Geschwindigkeiten, die auch relativistisch betrachtet genau Null waren, bezogen auf den Mittelpunkt von Dresden.

Grüße aus dem Dresdner Westen!

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