Exponentielles Wachstum: Corona-Virus
Was ist exponentielles Wachstum, leicht verständlich erklärt?
In Zeiten des Corona-Virus spürt man, wie sich viele Menschen durch mathematische Begriffe verunsichern lassen. Alle benutzen den Begriff „exponentielles Wachstum“, um ein besonders schnelles Wachstum und also eine Gefahr zu beschreiben. Schade ist es nur, dass die wenigsten wissen, was damit gemeint ist.
Deshalb ein kleiner Hinweis zum besseren Verständnis:
„Exponentielles Wachstum“ ist die einfache Proportionalität zwischen dem Wert einer Größe und ihrem Zuwachs, so, wie es jeder vom Zinssatz kennt: Schreibt man diesen fort, ergibt es die Zinseszins Kurve. Das „Problem“ liegt darin, dass viele schon die „Prozentrechnung“ für eine eigene Rechenart oder gar Mathematik-Disziplin halten, so dass sie vor lauter Hemmung oder Angst vor Mathe nicht merken, wie einfach das ist und wie ähnlich das der Infektions-Ausbreitung ist.
Kleiner Tipp: Es gibt nur zwei grundsätzliche Wachstumsformen, und beide entsprechen den Grundrechenarten (und werden durch die nächst höhere Rechenart nur „abgekürzt“, nicht aber im Wesen verändert):
– Zuwachs proportional (relativer Zuwachs) zum schon vorhandenen Wert: also stets gleiche Verhältnisse (oder gleicher Faktor: also wiederholte Multiplikation ergibt die Werte-Tabelle) zwischen neuem und altem Wert: exponentielles Wachstum (auf einfach logarithmischem Papier sieht das linear aus: der Anstieg der Geraden entspricht dem Verhältnis benachbarter Werte und ist also hier auf diesem Papier konstant)
– Zuwachs konstant (absoluter Zuwachs): also stets gleiche Differenz (oder gleicher Summand: also wiederholte Addition ergibt die Werte-Tabelle) zwischen neuem und altem Wert: lineares Wachstum (auf „Kästchen-Papier“ sieht das linear aus: der Anstieg entspricht der Differenz benachbarter Werte und ist also konstant)
„Exponentielles Abklingen“ kennt jeder von der „Halbwertzeit“ radioaktiven Zerfalls (jedenfalls tut jeder so, als ob er das wüsste). Es gibt eine konstante Zeit, nach der der aktuelle Wert auf die Hälfte gesunken ist, und das immer und immer wieder: Hälfte, Viertel, Achtel usw. usf. Das „Problem“ liegt darin, dass viele die „Halbwertzeit“ für eine radioaktive Besonderheit halten, so dass sie nicht merken, wie einfach das ist.
Machen wir es mit Corona einfach ganau so:
Bei unveränderten Übertragungs-Voraussetzungen für den Virus gibt es eine feste „Doppelwertzeit z“ (Umkehr der Halbwertzeit), in der sich die Zahl n der Infizierten eben verdoppelt. Dann ist nach d Tagen eine Zahl der Infizierten einfach zu berechnen:
n(d) = no * 2 hoch (d/z)
Beispiel:
Ist der Verdoppelungszeitraum 3 Tage und rechnen wir den Stand nach 9 Tagen aus, so erkennen wir im Kopf schnell, dass das drei Verdoppelungs-Perioden sind, also eine achtfache Zahl herauskommen muss. Gehen wir von no = 100 Erkrankten aus, so heißt das:
n(9) = 100 * 2 hoch (9/3) = 100 * 8 = 800.
Weil wir die dreifache Verdoppelung, also die dreimalige Multiplikation mit 2, abkürzen dürfen, indem wir statt der mehrfachen Multiplikatuion mit dem gleichen Faktor eine Potenz benutzen, deren Exponent die Anzahl der Verdopplungs-Perioden enthält (die Variable also im Exponenten der Potenz steht), nennen die Mathematiker diese einfache Verkürzung des Malnehmens „Exponentialfunktion“.
Weiter ist nichts.
Es ist also völlig falsch, wenn es vermeintlich gut meinende Journalisten schreiben, beim Nachlassen der Einschränkungen könnte wieder exponentielles Wachstum eintreten. Es ist immer da, auch vorher schon, es ändert sich lediglich der Wachstums-Bezugs-Zeitraum, hier als „Verdoppelungszeit“ eingeführt, in seiner Länge.
Woher kommt der Denkfehler der Journalisten (wir gehen davon aus dass sie weder dumm noch bösartig sind!)? Die lineare Darstellung einer Exponentialfunktion über einen großen Wertebereich zeigt einen Bumerang-ähnlichen Graphen,
der erst flach fast geradeaus, denn stark gebogen und dann steil nach oben wieder fast geradeaus geht. Den hinteren, den „steilen“ Teil, nehmen sie als Charakteristikum der bösen Exponentialfunktion. (Sie beherzigen nicht, dass die Steilheit allein vom Maßstab, also der Skalierung abhängt und somit eine typische Falle der automatisierten linearen grafischen Darstellung enthält.)
Wiederholung: „Exponentiell“ heißt also nicht „mystisch stark“, sondern einfach nur „mit konstantem Verhältnis“.
UND (da ich immer wieder feststelle, dass das viele nicht begreifen, weil sie es sich nicht durch Nachrechnen erarbeiten), wiederhole ich eindringlich:
Der steile Teil des „Bumerangs“ sieht nur optisch linear aus, ist es mathematisch aber nicht, denn seine mathematische Steilheit wächst auch da hinten ständig zunehmend weiter! (Die Lage des „krummen“ Teils des Bumerangs ist allein eine Frage der Skalenteilung!)
Um das mit Beispielen zu verdeutlichen:
– Es ist die quadratische Parabel, deren Anstieg linear wächst, sie hat also eine konstante Krümmung. Und auch sie sieht im steilen Teil dann fast linear aus.
– Es ist die kubische Parabel, deren Anstieg quadratisch wächst, deren Krümmung also linear wächst. Und auch sie sieht im steilen Teil fast linear aus.
– Bei der Exponential-Funktion gibt es keine Ableitung, die linear wird! Und da selbst sie im steilen Teil linear aussieht, erkennt man, wie trügerisch eine lineare Skalierung ist.
Hier die drei Funktionen gemeinsam abgebildet:
Logarithmiert man die Ordinate, sieht es dann so aus:
Wenn man die Parabeln linearisieren will, muss man die Abszisse „radizieren“, also einmal die 2. Wurzel und einmal die 3. Wurzel ziehen:
Ich hoffe, diese Beispiele konnten dafür sensibilisieren, dass man bei Diagrammen immer genau hinsehen muss; und dass man selber bei der Auswahl der Achs-Teilung überlegen sollte, was man besonders hervorheben möchte. HIER wäre also ein Argument gewesen, die jeweilige Abweichung einer ermittelten Funktion (eines tabellarisch erfassten Zusammenhangs beispielsweise) von einer hypothetischen Funktion (im letzten Beispiel eben die Abweichung von y = x³) grafisch möglichst eindrucksvoll darzustellen. Die stärkste „Empfindlichkeit“ unserer Grafik-Wahrnehmung ist immer die Abweichung von einer 45°-Geraden!
(Siehe hierzu auch: grafische Darstellung)
Und nun wieder zum Thema des Vergleichs von Exponentialfunktionen untereinander:
Zinseszins als bekanntestes Beispiel für eine Exponentialfuntion: Auch mit 0,01 % Zinsen gibt es den Zinseszins-Effekt, nur dass diese Kurve natürlich wesentlich langsamer („später“???) ansteigt als jene mit 10 % Zinsen (noch zwei dazwischen eingefügt):
(Für die Feinschmecker der Mathematik: In einem endlichen System gibt es kein unendliches Wachstum, sondern bei z.B. 50% Infizierten liegt der Wendepunkt der Funktion, je nach Viralität.)
Im Unterbewussten des Menschen aber ist das anders. Er geht instinktiv von einem Ausgleichsprozess aus (also nicht von einer „Einbahnstraße der Infektion“), so dass ihm „im Mittel“ schon nichts passieren wird, denn die anderen sehen ja auch ganz gesund aus, die er da trifft. Vor 10 identisch aussehende Glasgefäße mit geliebter Flüssigkeitsfarbe gesetzt, von denen er weiß, dass eines davon vergiftet ist, wird er hingegen gar keines anrühren, falls er kein Freund von „russisch Roulette“ ist. Woher kommt dieses irrationale Verhalten bei der Infektions-„Kette“? Sogar bei normalerweise als intelligent einzustufenden Hochschul-Studenten beobachtet man jetzt ein eigenartiges Gruppenverhalten in der zusätzlich gewonnenen Freizeit, die jeder Logik Hohn spricht. Da man sich aber schon anstecken kann, bevor der Übertrager (der anwesende schon Infizierte) Symptome zeigt, gibt es keine andere Lösung als Reduzierung der Kontakte.
Es wäre zu schön, ich würde mich irren.
(Wer es noch genauer rechnen will, der siehe dort nach!)
Kommentare
Jutta Martin am Donnerstag, 29. Oktober 2020:
Sehr gute und anschauliche Erklärung. Vielen Dank Jutta Martin
ich am Freitag, 20. November 2020:
Kann man denn Individuen berechnen? Kann man ein Immunsystem berechnen?
Joachim Adolphi am Freitag, 20. November 2020:
Liebe/Lieber „ich“,
gute Frage von einem Nicht-Individuum (selbige haben Namen…).
Nein, Individuen kann man nicht berechnen, das ist richtig, aber Gruppen haben charakteristische Eigenschaften (je nach Eigenschaftsklasse unterschiedlich skaliert), so dass man statistische Annahmen machen kann. Und Statistik ist schon so etwas wie „berechnen“. Es geht in einer Pandemie auch nicht um das Individuum, sondern um die Gesellschaft, deren Teile die Individuen allerdings sind. Es geht uns da heute besseer als in Pest-Zeiten.
Das gleiche trifft auf das individuelle und statistische Immunsystem zu.
Übrigens ist es niemandem verboten, strengere Regeln für sich selbst zu entwerfen als solche, die gesellschaftlich gerade üblich sind. Damit gefährdet er niemanden. Wer für sich selber bestimmt, dass die allgemeinen Regeln nicht einzuhalten sind, gefährdet dabei andere und ist deshalb als egoistisch zu bezeichnen. (In der Demokratie ist das übrigens immer so, wenn man nicht zur Mehrheit gehört: Man verabschiedet sich von der Demokratie, wenn man als Minderheit die Mehrheit und ihre Beschlüsse nicht anzuerkennen willens ist.)