Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.3.3.2 Beispiel „Hänschen klein“

Mit dem kleinen Hänschen müssen wir uns noch genauer befassen.

Der ständig mitlaufende Erwartungsbaum des geübten Musik-Hörers vergleicht „just in time“ den Fortgang des Gehörten mit dem Erwarteten. Eine Abweichung kann zweierlei bewirken:

– freudige Überraschung, Wiedererkennen einer Varianten-Struktur-Möglichkeit, Bestätigung des Selbst, Neugier auf weitere Abweichungen, Schärfung der Aufmerksamkeit

– verstimmte Ablehnung, Unverständnis des Gegenüber, Verweigerung weiterer Aufmerksamkeit („weghören“)

(Man merkt, dass das nicht nur für Musik gilt…)

Betrachten wir al Beispiel einmal den vorletzte Takt der F-Dur-Variante von „Hänschen klein“ im Faksimile von 4.3.3:

Hänschen klein in neuerer Version

Dort sind die begleitenden Harmonie-Hinweise stets für ganze Takte angegeben, auch der vorletzte ist NICHT unterteilt. Verstärkende Vorbereitung des Schlusses wäre eine Unterteilung dieses Takts, indem die zweite Takthälfte auf „Haus‘ ge-“ noch einmal die Dominante C7 erhält.

Man würde es auch bei einer intuitiven Begleitstimme „mehrdeutig“ gestalten, indem man die letzte Zeile des Liedes etwa so begleitet:

a‘-f‘-f‘, g‘-e‘-e‘, f‘-d‘-c‘-c‘,f‘.

Hier ist sogar ein Leitton oder Zwischenton (das d‘) zusätzlich eingebaut, den man auch als Grundton der parallelen Molltonart uminterpretiern kann, und der unter diesem Aspekt auf das folgende c‘ als Grundton der Dominante verweist, anstatt das c‘ als Quinte der Tonika zu verstehen, wie es das Faksimile nahelegt.

(Noch raffinierter wäre dann eine komplette Kadenz F-d-B-C-F: dann wäre das vorletzte c“ der Melodie die None der Subdominante und somit als „doppeltes Anschleichen“ an die Schluss-Auflösung zu verstehen. Da aber Volkslieder so einfach wie möglich sien sollen, wäre diese Ausformung nur unter Kennern wie geübten Chorsängern oder in einer Jazz-ähnlichen Session „an den Mann“ zu bringen.)

Dieses winzige Beispiel soll illustrieren, dass der begleitende Erwartungsbaum („Fortsetzungsverzweigungsmöglichkeitenbaum“), ist er erst einmal durch Erfahrung ausgebildet worden, nicht mehr abzuschalten ist, solange man hellwach ist.

(Man kann ihn entweder dämpfen oder sogar noch feiner ziselieren, wenn man die Sinne durch etwas Alkohol oder ähnliches „glättet“: Es können sowohl Strukturelemente als solche wegfallen oder eben „Verzweigungs-Verbots-Elemente“, je nachdem. Jetzt versteht man auch die Künstler, die äußere Mittel, und sei es eine „Muse“, zur Förderung der „Kreativität“ nutzen.)

Und: Schon dieses winzige „Hänschen klein“ kann uns zeigen, wie die Mehrdeutigkeit möglichen harmonischen Interpretierens einfachster Tonfolgen den ästhetischen Reiz der Musik ausmacht. Und da neben diesem intellektuellen Aspekt der Harmonie auch noch der animalische der rhythmischen Synchronisierung existiert, ist Musik ein universelles Medium.

Natpürlich kann man auch anspruchsvollere Musik untersuchen: Beethoven oder Chopin!

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