Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.3.1.1 Musik-Strukturelement 1: Zeit als Takt und Rhythmus

Als Kleinstkind haben wir gestrampelt. Mit Armen und Beinen haben wir uns benommen, als ob wir fliegen oder schwimmen lernen wollten. Dabei haben wir ein Taktgefühl erworben, das sich aus der Masse und der Länge und der Muskelkraft der Gliedmaßen ergeben musste.

Auch die Erwachsenen kennen verschiedene eigene Takte: Den Schritt beim Gehen, die Bewegungen bei handwerklichen Routinearbeiten, den Rhythmus bei gemeinschaftlicher Tätigkeit. Und alle muskulären Fortbewegungssportarten haben ihren Takt oder sogar ihren Rhythmus, wenn man Rhythmus einmal vereinfacht als die Art der Unterteilung eines Taktes (einer Periode) verstehen will.

Unser Tages- und Jahresablauf hat auch einen Takt und einen Rhythmus. Der Takt ist also das Element der Musik-Struktur, dessen innere Struktur uns am natürlichsten ist.

Eltern freuen sich, wenn kleine Kinder, die noch nicht sprechen können, den Takt eines Musikstückes aufnehmen können und sich danach frei, aber richtig, bewegen. (Die Freude ist berechtigt, denn nicht jedes Kind hat dafür eine „Ader“.)

(Es gibt übrigens Kulturen, in denen die kleinen Säuglinge in Steckkissen gehalten werden, um die Motorik zugunsten der geistigen Entwicklung zu unterdrücken. Interessanterweise haben diese Kulturen auch hervorragende Musiker und Komponisten.)

Nun aber etwas genauer:

Die Zeit wird in der Musik in mehreren Ebenen strukturiert, wobei der Takt als Hauptrahmen dient. Die darunter liegende Ebene ist die Aufteilung eines Taktes in meistens 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 oder 9 Teile (meistens Halbe, Viertel, Achtel). Am ursprünglichsten sind die Zweierpotenzen als Halbierungen und der Dreivierteltakt als Symbol der Drehung. 5 oder 7 Teile bieten eine hohe Spannung an, 9 sind die Drittelung der Drittelung und wirbeln etwas heftiger.

Auch über dem Takt gibt es eine Struktur, die vom natürlichen Singen kommt, denn man hat erstens nicht ewig Luft und zweitens nicht unendliche Gedankenketten mitzuteilen, so dass es zu Taktgruppen kommt, die etwa einer Gedichtzeile entsprechen. (Interessanterweise ist das auch die ungefähre Dauer des „Moment-Gefühls“ oder „sensorischen Gedächtnisses“, was man ohne Luft zu holen sagen oder singen oder ohne Anstrengung nach dem Hören fehlerfrei wiederholen kann!)

Hier beginnt nun das schier unendliche Spiel, denn die musikalischen Bögen können außerhalb des Lied-Gesangs (und auch bei einer Opernarie) über sehr viel mehr Takte gehen. Es gehört ein wenig Kenntnis der Rezeptionsgepflogenheiten der Hörer dazu, damit ein Komponist den „Bogen nicht überspannt“. Die Folge des Überspannens wäre ein Ausklinken des Hörers aus dem Geschehen, er hätte den Faden verloren. Aber das gehört eigentlich schon in das Gebiet der Melodie und Harmonie, wobei die Melodie selbst ja eben ohne Zeit nicht denkbar ist.

Wir ahnen an dieser Stelle, dass die Strukturelemente der Musik gemeinsam eine übergeordnete Struktur der Strukturen bilden, bei der auch vieles schiefgehen kann.

Bleiben wir noch beim Rhythmus innerhalb der Takte. Der kann erstens sehr unterschiedlich aufgebaut sein und sich zweitens von Takt zu Takt ändern, und zwar nach System: Es können dann fast alle Arten von Struktur-Operationen angewendet werden, wie man sie auch von Kristall-Strukturen oder von der bildenden Kunst kennt: Spiegelung, Dehnung, Umgruppierung, Variation. Dazu stehen verschiedene Tonlängen samt Punktierungen, Pausen usw. zur Verfügung. Und da viele Takte aufeinander folgen, können diese Strukturveränderungen selber eine Struktur haben.

(Besonderheiten wie Tempowechsel oder Fermaten lassen wir hier einfach einmal weg.)

Ich kann mich gut erinnern, welche Schwierigkeiten mir im ersten Jahr meines Klavierunterrichts der Auftakt im Lied „Und in dem Schneegebirge“ bereitete, weil ich das Lied nicht vorher gekannt habe und ausgerechnet nach der unmöglichsten Fassung im Zweivierteltakt mit drei Achteln Auftakt (75% eines Volltaktes!!!) lernen sollte (ich spielte die Achtel immer als Viertel, was meine alte strenge Lehrerin zur Verzweiflung trieb):

Die blöde Fassung mit 3 Achteln als Auftakt im Zweivierteltakt, die fast meinen Klavierunterricht beendet hätte…

Ungeschickt wirkende Fassung im Dreivierteltakt mit einem Achtel Auftakt

Eine andere Fassung im Dreivierteltakt mit einem Achtel Auftakt, die in der Wiederholung der dritten Textzeile eine kleine rhythmische und melodische Variation von einem einzigen Ton enthält, die zum Schluss überleitet. (Alle drei Fassungen im Internet gefunden. Dort gibt es noch viel mehr, aber sie ähneln immer einer dieser drei.)

Auch im Dreivierteltakt ist das mit der Betonung nicht ganz leicht, passt aber besser zum Rhythmus des Reims. Vielleicht hätte ich das leichter begriffen? Aber da hätte ich als Knirps schon die Mazurka kennen müssen: Generell steht die Mazurka im 3/4 Takt. Besonderes Erkennungsmerkmal in musikalischer Hinsicht ist einerseits die Unterteilung der ersten Zählzeit und andererseits (daraus resultierend) die Verschiebung der Betonung auf die zweite Zählzeit. (Wiki)

Offenbar kannte auch der Setzer des Zweivierteltaktes diese Eigenheiten der nordwestpolnischen Mazurka nicht oder erwartete sie nicht in einem schlesischen Lied.

(Später habe ich selber auch im Fünfvierteltakt komponiert, aber für einen blutigen Anfänger war das Liedchen schlimm…)

Die rhythmische „Überstruktur“ dieses Liedes ist aber interessant, wenn wir besonders die letzte der drei Versionen nehmen (das war für mich damals natürlich zweihändig, aber hier geht es nur um den Rhythmus der Melodie):

Die zweite Version beschränkt sich auf eine Zweierpotenz der Taktanzahl und ist also etwas langweiliger.

Hier mache ich vorerst Schluss, denn hier soll ja kein Rhythmus-Lehrbuch entstehen, sondern nur dazu angestoßen werden, rhythmische Spielereien in der Musik unter dem Überbegriff „Struktur“ wiederzuerkennen und einordnen zu können.

Die wesentliche Funktion des Rhythmus‘ aber ist, über das Strukturelement „Zeit“ Sender und Empfänger so zu synchronisieren, dass ein Vergleich von Erwartung und Erfüllung entstehen kann, der Zuhörer in das Musikgeschehen quasi einbezogen wird. Die Freiheit, die ein Betrachter eines Bildes hat, indem er seine Augen darüber gleiten lassen kann, wie er will, hat der Musikhörer nicht. Er ist „Gefangener“ des Zeitablaufes, er ist manipulierbar. Sein Kurzzeit- und sein Langzeitspeicher sind aktiviert, und der Mittelzeitspeicher steht unter Stress.

Wir werden später behandeln wie im Kurzzeitspeicher entschieden wird, ob die strukturellen Bezüge der Harmonie zum Zeitbezug erhalten bleiben.

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