Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


3.0 Das Leben an sich

Was ist das Merkmal des Lebens? Was ist Pflanzen und Tieren gemein? Was unterscheidet sie? Gibt es „strukturelle“ Aspekte bei der Betrachtung dieser Fragen?

Stoffwechsel und Reproduktion: Ist das schon Leben? Es scheint so.

Was sind die höchsten Formen des Lebens? Sind das Individuen, die selbständig (das hießt ohne andere Individuen derselben Art und ohne anderes Leben überthaupt) existieren können oder solche, die die höchste „Kultur“ der Arbeitsteilung erlangt haben?

Es sind zwei völlig verschiedene Aspekte, die wir eingangs einmal untersuchen wollen, weil sie beide interessant erscheinen.

Der Mensch behauptet von sich, das am höchsten entwickelte Lebe-Wesen zu sein. Setzt man ihn allein auf einer unbewohnten Insel ab, erlebt er sein „Blaues Wunder“. Nicht jeder hätte so viel Glück wie Robinson, eine Kiste mit Werkzeugen und Instrumenten vorzufinden, die ihm beim Einrichten einer „Start-Existenz“ helfen können. Der „Normalbürger“ würde verhungern oder gefressen werden. Das ist das „höchste Wesen“?

Der heutige Mensch braucht zumindest Pflanzen (ebenfalls Lebe-Wesen) und andere Menschen, um leben zu können. Er ist ein Zwitter zwischen Pflanzen-Fressern und Fleisch-Fressern, er ist ein Alles-Fresser. Die reinen Fleisch-Fresser sind die abhängigsten Lebe-Wesen überhaupt, unter ihnen gibt es dann die Gipfel-Tiere der Umwelt-Medien „Land“ (Löwe), „Luft“ (Adler) und „Wasser“ (Hai): Sie haben keine standardmäßigen Fress-Feinde.

Die Fleisch-Fresser brauchen andere Tiere zum Leben, die Pflanzen-Fresser brauchen Pflanzen zum Leben, die Pflanzen brauchen nur Mineralien, Luft, Wasser und Sonne zum Leben. Sind die Genügsamsten die Höchsten, weil die Unabhängigsten?

Wir können das noch weiter treiben: Die Pflanzen müssen sich nicht einmal individuell bewegen können, um am Leben zu bleiben! Das ist ein weiterer Grad an Unabhängigkeit! Oder sind sie gerade davon abhängig, was zufällig in ihrer Nähe an Nährstoffen zur Verfügung steht? Hier merken wir, dass wir zwischen „Art“ und „Individuum“ unterscheiden müssen, wenn wir das bewerten wollen.

Das „Minimal-Anforderungs-Prinzip“ stellt das Überleben mit den geringsten Anforderungen an höchste Stelle, das „Maximal-Fertigkeits-Prinzip“ das Überleben auf der Basis der höchsten individuellen Fähigkeiten an höchste Stelle.

Wie die Formulierungen zeigen, gibt es auch noch ein abstraktes Prinzip für die Bewertung der Art als Ganzes, nämlich die Einbeziehung der Interaktion der Individuen. Dann wäre die Fähigkeit des Menschen zur Arbeitsteilung ein Plus für die Art, auch wenn es ein Manko fürs Individuum ist.

Die einfachen Formen erkennen wir schon bei den Bäumen im „Wald“, wo man sich gegenseitig Windschutz „gibt“. Komplexer wird es bei den staatenbildenden Insekten, bei den Schwarmfischen und -Vögeln und bei den herdenbildenden Säugetieren.

Die Symbiosen bilden dann Über-Strukturen zwischen den Arten. Und immer bleibt die Frage der Sicht: Individuum oder Art?

Man kann auch die Viren oder die Pilze als die „Krone der Schöpfung“ betrachten, weil sie selber fast nichts für das „Bleiben“ der Art unternehmen müssen. Überhaupt scheint die ungeschlechtliche Teilung der Einzeller das Nonplusultra zu sein.

Die Welt ändert sich.

„Anpassung“ heißt also auch, „sich selbst als Art“ ändern zu können, oder die Individuen einzeln lernfähig zu  „machen“. Die Art ändert sich durch Mutation der Gene, also durch „Fehl-Abbildungen“. Das ist bei strangförmigen Genen leichter als bei ringförmigen, führt aber „nebenbei“ zum Sterben der Individuen. Bei Zellteilung der Einzeller „stirbt“ niemand eines „natürlichen“ Todes, sondern kommt höchstens durch schelchte Umstände um. Bei den Viren, die sich nicht einmal selbst teilen können, ist es noch besser. Sind sie sogar die „Krone der Schöpfung“?

Eines jedenfalls kann man feststellen: Seit Darwin (und seinen zeitgleichen Kollegen) ist eine zweite romantische Sicht auf die Entwicklung der Arten im Schwange, die eben jenen Arten einen unangemessenen, geradezu moralisierenden Subjekt-Status verleiht, indem man vom „Ziel des Überlebens“ der Art spricht, sogar vom „Kampf ums Überleben“. (Beim individuellen tierischen Kampf der Pflanzenfresser gegen das Gefressenwerden gibt es sogar einen ökonomischen Aspekt des optimalen Kapitulations-Zeitpunktes, um eben nicht „bis zum letzten Blutstropfen“ leiden zu müssen.)

Nüchtern betrachtet heißt es eben, dass solche Strukturen nicht lebensfähig sind, die keine Möglichkeit der Anpassung entwickelt haben. Im Klartext heißt das: Ohne Auswahl durch genetische Fehlabbildungen (Mutationen) keine Artanpassung, ohne Auswahl durch Verhaltens-Fehlabbildungen (Erziehungs-Mängel, also Chance auf individuelle Anpassung) ebenfalls keine Artanpassung.

Im Umkehrschluss bedeutet das, dass alle abweichungsfreien 1:1-Abbildungen von jeher stets ausgestorben sind. Und bei größeren Katastrophen sterben auch viele variablen Abbildungen aus.

Am hoffnungsvollsten sind die Arten, die sowohl eine zufällige Gen-Differenzierung als auch eine interne Gen-Reparatur eingebaut haben, möglichst verstärkt durch eine geschlechtliche Fortpflanzung („Gen-Mischung“).

Ein überaus simplifizierter Modellierungs-Ansatz hierzu ist im Abschnitt 1.2.2 bei der Behandlung der modifizierten „zellulären Automaten“ nachzulesen.

Man sieht, „Struktur“ kommt im Leben der Lebe-Wesen in vielfältiger Beziehung vor. Es lohnt sich also, weiter strukturiert darüber nachzudenken.

Am einfachsten ist das aus chemischer Sicht, wenn man mit den Pflanzen beginnt (einfachere Formen wie Archaeen, Bakterien, Pilze etc. weglassend):

– Pflanzen verwandeln anorganische Stoffe des Bodens mit den anorganischen Stoffen Kohlendioxid CO2 und Diwasserstoffmonoxid H2O aus der Luft mit Hilfe der Energie der Sonnenstrahlung („Photosynthese“) in organische Substanzen, wobei als Abfall Sauerstoff O2 entsteht (Beim Absterben geben sie CO2 und H2O dirket wieder an die Luft ab, beim Gefressenwerden indirekt etwas später oder noch später, siehe nächste Anstriche)

– Pflanzenfresser wandeln die organische Stoffe der Pflanzen mit Hilfe des Sauerstoffs O2 aus der Luft teilweise wieder in anorganische Stoffe um, darunter für den Kreislauf Kohlendioxid CO2 und Diwasserstoffmonoxid H2O (manchmal auch Methan CH4)

– Fleischfresser tragen nichts Neues dazu bei, sind lediglich Schmarotzer eines schon bestehenden Kreislaufs, helfen aber bei der „Auswahl“ und produzieren neben organischen Substanzen für ihren Aufbau anorganische Stoffe, darunter wiederum Kohlendioxid CO2 und Diwasserstoffmonoxid H2O

Der Kreislauf ist gut zu erkennen, die Rückkopplung ist perfekt. Das Verhältnis von CO2 und O2 in der Atmosphäre der Erde hat sich in diesem Zusammenhang über die Jahrmillionen häufig geändert, was immer wieder zu neuen Anpassungen (und damit „Strukturen“) des Lebens geführt hat.

Sehen wir uns eine Auswahl einmal an:

Arten mit geringer Nachkommenzahl müssen in der Regel Brutpflege machen, das erfordert Kommunikation (Signal-Struktur) und „Rang-Struktur“, so etwas wie „Familie auf Zeit“. Sie brauchen die entsprechenden Aktoren und Sensoren und Signal-Verarbeitungssysteme.

Fleischfresser jagen manchmal gemeinsam, da müssen sie auch kommunizieren und Rangfolgen (wieder beide Strukturen) einhalten können. Sie brauchen optische (und auch manchmal akustische: Füchse z.B.!) 3D-Sensoren und gute Beine. Diese müssen mindestens so gut sein wie die der Beute, oder man jagt gemeinsam, oder man muss sich mit schwachen Tieren einer Herde zufrieden geben (schärft das Auswahl-Prinzip der Evolution!)

(3D-Sensoren: Gilt auch für Springspinnen!)

Pflanzenfresser brauchen Rundum-Sicht (realisiert unter Verzicht auf 3D-Optik) und gute Sensoren für fehlende Sicht (Nase, Ohr) zur Verteidigung/Flucht. Und die Aktoren für die Flucht oder die Verteidigung müssen mindestens so gut sein wie die der Angreifer, oder man verteidigt sich gemeinsam (Büffel-Kreis gegen Löwen zum Beispiel).

Pflanzen brauchen Sensoren für Fressfeinde, um eine entsprechende Abwehr-Chemie oder Abwehr-Gewebe-Produktion in Gang setzen zu können. (Raffinierte „Feinde“ wie Gallwespen und Gallmücken nutzen genau das aus…)

Übrigens: Da manche Pflanzen auch Sensoren dafür haben, ob ihre Nachbarn solche Aktionen betreiben, spricht man oft vorschnell und leichtfertig von „Kommunikation“. Für mich ist Kommunikation keine Einbahnstraße, sondern Austausch, das heißt, mit einer wahlfreien Antwort, auf die auch gewartet wird. Das ist bei den Pflanzen sicher nicht der Fall. Ich kann nicht genau erkennen, ob das wieder ein Übersetzungs-Dilemma aus dem Amerikanischen ist, wie man es schon oft registrieren musste, dass exakte deutsche Begriffe dadurch aufgeweicht worden sind.

Aus den wenigen Bemerkungen wird schon klar, dass Konrad Lorenz, als er mit den Tieren sprach, uralte Weisheiten der Tierzüchter und ihrer Bauern-Nachkommen aufgefrischt und in Wissenschaftssprache übersetzt hat. Nur überhebliche „Stubengelehrte“, die die frische Luft scheuen, haben solche Verhaltens- und Organisations-„Strukturen“ und ihre organischen Voraussetzungen noch nicht erlebt und in Zusammenhang gebracht.

In den nächsten Abschnitten soll es ein paar Beispiele geben, die das erhellen.