Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.0.1 Struktur der menschlichen Trugschlüsse

Haben die Trugschlüsse, die uns im Alltag immer wieder passieren, eine bestimmte Struktur?

Ein ganz gewöhnliches Beispiel soll uns klar machen, wie ein Trugschluss entsteht, welche Struktur ihm meistens innewohnt: Wir wollen nach dem Weihnachtsfest endlich mal unser Körpergewicht reduzieren, am besten unter den Wert von vor der Vorweihnachtszeit.

Die Methode „FdH!“ (Friss die Hälfte!) funktioniert immer. Stolz, das Ziel erreicht zu haben, dürfen wir nun endlich wieder so viel essen wie vor der Vorweihnachtszeit.

Oh Schreck, wir nehmen wieder zu, bis wir das vorige Gewicht erreicht haben. Jetzt können wir messerscharf schließen, dass das unser „natürliches Gewicht“ sein muss, das der Körper also „ganz von allein immer wieder einstellt“. Wir „können also nichts dafür“, dass das so ist.

Der Schluss ist richtig. Aber: Er betrifft nur den Fall, dass wir eine bestimmte mittlere Nahrungszufuhr einhalten. Ist es also doch ein Trugschluss?

Wir haben etwas grundlegendes nicht verstanden, wenn wir solch einen Schluss ziehen, dass bei einer gewissen Energiezufuhr (Eingangs-„Leistung“, denn Leistung ist Energie pro Zeit) der Speicher einen konstanten Inhalt haben muss, wenn die Ausgangs-Leistung ebenfalls konstant ist. Im technischen Fall ist das schon denkbar. Am anschaulichsten  konstruiert man das mit Wasserströmen und einem Wasserbehälter (so wie wir das als Kinder beim Bauen von Staudämmen am Bach gespielt haben oder mit Eimerchen im Sandkasten Wasser umgefüllt und/oder Matsch erzeugt haben):

Technisch klar definiert:

Zustrom (Volumen pro Zeit): Einstellbar über ein Ventil (konstant anliegender Druck)

Speicher (Volumen): Prismatischer Hohlkörper (d.h. Volumen prop. Füllstand)

Abstrom (Volumen pro Zeit): Einstellbar über eine Pumpe unabhängig vom Füllstand

Hier ist es völlig egal, welcher Füllstand vorliegt, denn immer dann, wenn Zustrom und Abstrom gleich groß sind, verändert er sich nicht.

Und da wir erlebt haben, dass bei konstantem Essen das Gewicht irgendwann auch konstant ist, gehen wir davo aus, dass sich beide Systeme gleich verhalten.

Das ist eine kluge Schlussweise und gehört schon zu den gehobenen Denkleistungen, nämlich der Fähigkeit der Übertragung von Erkenntnissen auf ähnliche Sachverhalte!

Aber warum versagt diese Klugheit hier, wo wir nicht einmal auf ein anderes System schließen müssen, sondern nur im gleichen System einen neuen Füllstand dauerhaft haben wollen? Gute Frage! Immerhin stellen wir selber die Menge des Zustroms (Essen) und die des Abstroms (Grundumsatz ist gegeben, aber Sport und Bewegung sind einstellbar) bewusst ein und können sie also vergleichen mit schon gemachten Erfahrungen!

Lösung:

Unser Körper reagiert selber wie ein Regler, indem er eine bestimmte aus der Nahrungsmenge gezogene Energie wieder über das Verdauungssystem ausscheiden kann, ohne damit einen Überschuss als Fettvorrat anlegen zu müssen. Zwei verschiedene Menschen haben i.a. zwei verschiedene Regler-Einstellungen, so dass sie bei gleichem Körpergewicht, gleicher Leistungs-Aufnahme und -Abgabe dennoch eine unterschiedliche Gewichts-Tendenz aufweisen können.

Wie funktioniert so ein Regler?

Wir machen es uns wieder mit Wasser klar:

Die einfachste Füllstandsregelung ist ein Überlauf. Dieser Überlauf kann zwar unterschiedliche Geometrien aufweisen (rechteckig, dreieckig, parabelförmig, anders geschwungen usw. usf.), aber allen ist gemein, dass der Abstrom um so größer ist, je höher der Füllstand ist. Die Forderung, der Füllstand soll konstant sein, ist für jeden Zustrom erfüllbar, indem sich ein untereinander gleich großer Abstrom automatisch einstellt; aber: Der Füllstand ist jetzt eine Funktion dieses konstanten „Durchstroms“!

Hm. Das heißt nun wieder im Umkehrschluss (und dass wir logisch schließen können, haben wir schon bewiesen, wenn auch unter unvollständiger Daten-Erfassung), dass zu einem geringeren konstanten Körpergewicht auch eine geringere konstante Nahrungsaufnahme oder/und eine höhere konstante Sportbelastung gehört!

(Dass der Regler auch psychischen Einflüssen unterliegt, sei hier einmal vernachlässigt: Gewichts-Abnahme bei Kummer, -Zunahme bei Glück!)

Da nicht alle so klug wie wir sind, hat es der Gewichtsreduzierungsmarkt leicht, große Umsätze (auch mit offensichtlich falschen Versprechungen) zu erzielen. Gründen wir eine solche Firma??

Fazit 1:

Es sind nicht nur „optische Täuschungen“ interessante Forschungsobjekte, sondern auch andere menschliche Trugschlüsse. Ihre Struktur hat immer eine individuelle Geschichte und beruht in den meisten Fällen auf richtigen, aber unvollständigen Beobachtungen der Umwelt. Durch Austausch zwischen den Individuen (menschliche Kommunikation) verstärken sich die Trugschlüsse oft zu marktwirksamen „gesicherten“ Meinungen.

(Siehe Corona!)

Zusatzfrage:

Kann man auch Aussagen über den Zeitablauf machen?

Oben haben wir nur die konstanten End-Zustände des Systems betrachtet (sozusagen die irgendwann eingestellten Gleichgewichts-Zustände eines konstanten Füllstandes bei konstanten und gleichen Zu- und Abströmen).

Wie reagiert das System bei Änderungen?

Das Zeitverhalten eines Systems wird in der Regelungstechnik genau untersucht. Dort wäre unser Füllstand (als Analogon für das Körpergewicht!) die so genannte „Strecke“ des Systems. „Messglieder“ stellen den Zustand des Systems fest, „Stellglieder“ beeinflussen es. Auf diese Weise entsteht eine „Rückkopplung“ („closed loop control“), die die Regelung von der Steuerung („open loop control“) unterscheidet. Bei so genannter „negativer“ Rückkopplung gleicht das System eine Störung (teilweise oder ganz) aus, bei „positiver“ verstärkt sich die Störung zur Katastrophe.

Der Überlauf im Wasser-Beispiel sorgt ganz automatisch dafür, dass der Füllstand nicht ins Uferlose steigen kann, er gleicht also durch seine „negative“ Rückkopplung (höherer Wasserstand sorgt für stärkeren Abfluss und erniedrigt damit tendenziell den Wasserstand) jegliche Störung (sowohl zu viel als auch zu wenig Zufluss) zumindest teilweise aus. Der „Rest“, der nicht ausgeglichen werden kann, weil es ja eine zeitunabhängige Kopplung von Wasserstand und Abfluss gibt, nennt sich in der Fachsprache „bleibende Regelabweichung“.

Diese Regelabweichung stellt sich zeitlich in einer Ausgleichsfunktion ein, denn auch hier besteht eine (nun schon die zweite!) Rückkopplung: Je mehr sich das System dem Endzustand nähert, desto geringer wird seine zeitliche Änderung (mathematisch sind das Exponentialfunktionen, zu gleichen Zeitspannen gehören also gleiche Verhältnisse der Werte von den Abweichungen vom Endzustand).

Auch dieses Zeitverhalten können wir bei unserem Körper feststellen: Die ersten Tage der veränderten Gewohnheiten der Nahrungsaufnahme oder der körperlichen Dauerleistung bringen einen großen Effekt, dann lässt dieser zu unserem Ärger und Frust leider nach. Deshalb kann in der Werbung auch von „schnellen“ erfolgen gesprochen werden, so dass man, wenn man diese tatsächlich erlebt, sofort nachzukaufen bereit ist. Erst nach vielen Wochen Frust und dem Wiedererreichen der alten Situation vor der Veränderung macht man einen zweiten Versuch und hält das Ergebnis des ersten für einen zufälligen Fehlschlag. Manche werden dann irgendwann „aus Erfahrung“ klug, und manche verstehen sogar, was passiert. Das allerdings ist von der Werbung NICHT gewollt!

Fazit 2:

Der zeitliche Ablauf entsprechend einer sanft einschwingenden Ausgleichskurve ist ein Hinweis darauf, dass das neue Gleichgewicht eines reduzierten Körpergewichts NUR durch Aufrechterhaltung der neu eingestellten Lebensweise beibehalten werden kann. Verhaltens-Episoden (Werbung: „Zwei Wochen einnehmen!“) führen dagegen also IMMER zum Jojo-Effekt!

Wir dürfen sicherlich davon ausgehen, dass uns auch auf anderen Gebieten solcherart Trugschlüsse passieren werden. Sie sind ganz normale Zwischenstufen eines Erkenntnisprozesses und sollten uns deshalb nicht entmutigen!