4.3.2 Wechselspiel der Strukturelemente der Musik
Natürlich sind immer fast alle drei Typen der Strukturelemente, die oben behandelt worden sind, gleichzeitig vorhanden (Ausnahme sind die Geräuschkonzerte ohne erkennbare Grundschwingungsfrquenzen): Rhythmus, Melodie samt Begleitung und Klangfarbe durch Instrumente.
Die Kunst des „Kontrapunkts“ verbindet nun diese Elemente systematisch und ist NICHT entwicklungsgeschichtlich in uns vorstrukturiert. Erfassen können wir diese Kunst nur mit dem Geist. Allerdings kann auch hier eine individuelle „Gewöhnung“ stattfinden, sodass wir Lieblingsstrukturen entwickeln, die dann emotional besonders wirken können. Das melodische und rhythmische Variieren und Verschränken von Stimmen kennen wir auch aus dem Jazz und aus eigenen übermütigen Gesängen sowie aus den Gesängen von Amseln, Nachtigallen oder Staren, den Komikern unter den einheimischen Singvögeln.
Der Höhepunkt solcher Technik ist die Fuge, als deren Meister allgemein J.S.Bach anerkannt ist (2 mal 24 Präludien und Fugen). Viele haben ihm nachgeeifert, darunter im 20. Jahrhundert vor allem russische/sowjetische Komponisten, die sogar die Verbindung zu den Präludien bei Bach abgeguckt und natürlich auch die 24 Tonarten (Dur und Moll) abgearbeitet haben:
- W. P. Saderazki 1938 (nur Präludien) (gehört in Gohrisch 2015: schwülstige Schluss-Phrasen nach hochintelligenter Durchführung der Themen, eventuell Persiflage?)
- D. D. Schostakowitsch 1933 (nur Präludien, Noten bei mir), 1951 (mein Lieblingsinterpret: Keith Jarrett – sparsam und exzellent durchsichtig -, Noten bei mir, wieder zu hören in Gohrisch 2017)
- R. K. Schtschedrin 1964 (Noten bei mir)
Schon andere Komponisten haben vieles vorweggenommen, was heute als „neu“ oder „modern“ verkauft wird:
- F. Mendelssohn Bartholdy („Lieder ohne Worte“) hat wie auch schon Bach (Präludien) perfekte Bass-Begleit-Figuren entwickelt, wie sie heute jedem Jazz-Festival zur Ehre gereichen können. Sie stammen einfach aus dem intelligenten Wandern durchs Harmonie-Gebäude!
- Chromatische Spielereien gehören natürlich in die „Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll“ von Bach! (Spiel mit dem verminderten Dreiklang als Viertelung der Oktave in als chromatische Rückung verkleideter Harmonie-Wanderung durchs Gebäude)
- W. A. Mozart ist ein Filou der verzögerten Auflösung, der den früheren „Vorschlag“ als betonten Taktbeginn vollwertig der Auflösung voransetzt. Hier erkennt man seine Verbundenheit mit den Salons der Zeit.
- F. Chopin hat diese Mozart-Kunst raffiniert in Tanzformen gesetzt und bedeutend erweitert, so dass sie besonders ins Schweben (Walzer cis-Moll z.B., einer meiner Lieblinge) kommen kann, was dann sogar in die große Form des Solokonzerts übernommen werden kann (Zitate Nocturno und Klavierkonzert).
Fazit:
Das Wechselspiel der musikalischen Elemente enthält so vielfältige Möglichkeiten, dass selbst mit der Zuhilfenahme komplexer geometrischer Analogie-Vorstellungen kein geschlossenes Bild erzeugt werden kann. „Der Zauber der Musik“ eben.
Das heißt im Umkehrschluss, dass für alle Zeit Arbeit für die Komponisten und Freiraum für die Hobby-Improvisations-Sänger bleibt!
(Und Aufträge für die Anwälte der wegen Plagiats klagenden und beklagten Komponisten…)
Für den „Struktur-Fetischisten“ wie mich bleibt es „ein weites Feld“, das täglich neue Entdeckungen ermöglicht, und wenn man sich einfach nur selbst beim träumerisch-spielerischen Improvisieren zuhört…
Und: Es ist ein schönes ästhetisches Spiel, die Struktur der Musik auf andere bekannte Struktur-Systeme übertragen zu wollen, zum Beispiel auf
- Kristallografie (Victor Mordehai Goldschmidt ist vor 100 Jahren den umgekehrten Weg geangen: Von den Strukturgesetzen der Kristallografie zu denen der Musik!)
- Architektur (Harmonie-„Gebäude“, durch das man mit der Zeit wandern kann: 3-D-Flüge auch animiert)
- abstrakte Malerei (Zeit-Bezug völlig frei)
Zumindest in der Kristallografie hat man ja ähnlich kommunizierende Elemente:
Ecken, Kanten, Flächen, Zentralabstände, innen, außen, konvex, konkav, Flächenmitten, Kantenmitten, Raummitten, Diagonalen usw. usf.
Da müsste doch etwas zu machen sein?
Und in der Architektur hat man Räume, Gänge, Treppen, Fenster in allen möglichen Formen, die ebenfalls miteinander kommunizieren.
NUR: Der Freiheitsgrad des Zeitablaufs (Rhythmus) muss jedes Mal ins Räumliche übertragen werden, was in der Malerei vielleicht am besten gehen sollte, man erinnere sich nur an die verrückten 3D-Konflikt-Spielchen von M. C. Escher. Auch Mathematiker befassen sich damit (TU Dresden, Vorlesungs-Reihe „Musik und Mathematik“ im Andreas-Schubert-Bau).
Zusammenfassung:
In der Musik ist eine hierarchische Struktur der Strukturen zu erkennen:
- harmonische Struktur des Augenblicks
- zeitliche Struktur des Taktes
- kontrapunktische Struktur der einzelnen Phrase
- gestalterische Struktur des Satzes (einer Sonate z.B.) oder eines Stückes
- gestalterische Struktur einer Komplexes (z.B. eine Sonate)
- gestalterische Struktur einer Serie (z.B. 24 Präludien)
Jede übergeordnete Struktur kann auch mehrere darunter liegende gleichzeitig als Elemente zur Erzeugung von Beziehungen nutzen, was neue Struktur-Aspekte (Wiedererkennungswert bzw. Plagiat-Behauptungs-Basis) schaffen kann.
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