Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


2.6.2.0 Grundlagen der Minimalflächen-Numerik

Im übergeordneten Abschnitt geht es etwas chaotisch los, weil ich das Problem der Diskretisierung in Bezug auf die Oberflächenspannung unterschätzt habe. Deshalb für mich selber hier alles schön langsam und hoffentlich didaktisch geordnet:

Bei der analytischen Lösung des Minimalflächen-Problems geht man von Parameterdarstellungen der Minimal-Flächen aus und wendet allgemeine Strategien der Variationsrechnung an. Über partielle Differentiation der Ergebnisse kann man die Probe machen, ob wirklich in allen Punkten der Fläche die mittlere Krümmung Null ist.

Will man nun aber numerisch vorgehen, muss man die Fläche diskretisieren, also in Punkte zerlegen, die ihrerseits durch Kräfte (aus der Oberflächenspannung der Haut stammend) miteinander verbunden sind. Die dynamische Idee, die sich an vielen anderen Problemen bewährt hat, nämlich aus einem einfach zu beschreibenden Anfangszustand sukzessive zur Lösung zu gelangen, indem man annimmt, dass in der Umgebumg eines stabilen Zustands eine Schwingungs-Möglichkeit um diesen existieren muss, die man nachbildet und so dämpft, dass sie im günstigsten Falle im aperiodischen Grenzfall zum Gleichgewichtszustand hinführt. (Anschließend kann man überlegen, ob sich diese Lösung analytisch darstellen lässt, und sei es durch eine Reihenentwicklung einer Parameterdarstellung.)

In diesem Abschnitt wollen wir mit einfachsten Start-Überlegung versuchen, die Kompexität der Problematik „numerische Ermittlung einer Minimalfläche“ zu erfassen und zu berücksichtigen.

In der „Wirklichkeit“ unseres Modells (also in seiner allgemeinsten Form) wird es Punkte geben, die zu den Nachbarn im Verlaufe des Prozesses unterschiedliche Abstände und unterschiedliche Winkel haben werden. Die Physik des Problems verlangt von uns, einen kräftefreien geometrischen Zustand zu finden. Deshalb müssen wir dreierlei Aufgaben bewältigen können:

1. die Kräfte in einer gegebenen Konfiguration berechnen

2. die aus den Kräften folgenden Lageänderungen bestimmen

3. die Probe über die lokalen Hauptkrümmungen machen

Zu allen drei Aufgaben müssen wir stets Annahmen treffen, wie die rein physikalisch oder mathematisch-analytisch formulierten Zusammenhänge auf das diskretisierte Modell übertragen werden können.

Physik: In einer Seifenhaut (zwischen mechanisch fixierten Rändern) kann es lediglich Zugspannungen der Oberfläche („Oberflächenspannung“) geben, die wegen der Verschiebungsmöglichkeit der Flüssigkeitsmoleküle solange zu einer Formänderung führen, bis für JEDEN Punkt der Fläche Kräftefreiheit besteht. Das heißt unscharf, dass JEDER Punkt ein Sattelpunkt sein muss, und das heißt etwas schärfer, dass außerdem sogar die beiden Hauptkrümmungen entgegengesetzt gleich groß sein müssen. Ist das Gebilde klein und dünn genug, kann die Erdbeschleunigung vernachlässingt werden. Aus Experimenten weiß man, das genügend große Gebilde ihre grundsätzliche Form-Stabilität durch hübsche Schwingungen („Wabern“) anzeigen. (Ist zu viel Flüssigkeit bei einer Blase um zu wenig eingeschlossenes Luftvolumen gebildet worden, hängt unten ein Tropfen dran… Zu geometrischen Erscheinungen, die Mustern aus Seifenblasen und ihrem Innenleben ähneln können, siehe z.B. auch 2.1.1 Oberflächen-Risse!)

Die ersten beiden o.a. Aufgaben haben wir schon an vielen anderen Stellen erfolgreich bewältigt, auch über diskretisierte Modelle mit numerischer Integration. Wenn wir aber diskretisierte Punkte einer (physikalisch: stetig differenzierbaren) Fläche im Raum haben, auf welchen der diskreten Punkte soll denn dann die diskrete Kraft zeigen und wie groß soll sie sein? Wohin soll sich also der untersuchte Punkt bewegen und wie weit, bevor wir die Rechnung zeitgetaktet wiederholen?

Und: Was ist mit den Krümmungen? Wie soll man sie bestimmen? Aus je drei Punkten kann man immer einen Kreis bilden, der einen bestimmten Mittelpunkt und einen bestimmten Radius und also eine bestimmte Krümmung hat. Wie eng müssen die drei Punkt zusammenliegen, damit keine Fehlinterpretation erfolgt?

Jeder von uns hat Vorstellungen davon, ob z.B. ein Fußball in eine konkave Mulde passt oder ein Hut über eine konvexe Glatze… Aber diskret? Wer berechnet locker aus drei Punkten im Raum die dazugehörige Krümmung des Verbindungsbogens? Und wer hat VOR der Rechnung schon ein „Gefühl“ für diese?

Fangen wir also ganz klein an. Wir haben drei willkürlich ausgewählte Punkte, die aber (aus Rücksicht auf die Beschränktheit unseres Vorstellungsvermögens) der Einfachheit halber in zwei Paaren den gleichen Abstand haben, also wie Umfangspunkte eines Kreises zu ihrem Mittelpunkt. Wie hängt jetzt die Krümmung des Kreises, der durch diese drei Punkte geht (das muss man natürlich auch rechnen können!!), vom Winkel zwischen den beiden Radien r1 und r2 ab? Einer der Punkte – hier der untere – ist also sowohl Mittelpunkt des Dreieck-Bildungs-Kreises („Bild-Kreis“) mit den beiden eingezeichneten Radien r1 und r2 als auch Randpunkt des Krümmungskreises („Kreis“) um den roten Mittelpunkt:

Der untere Punkt soll der bewegliche sein und liegt auf der Seitenhalbierenden der oberen beiden.

Man erkennt, dass die Krümmung des Kreises (das heißt der Kehrwert des Radiusses!) schon fast maximal ist, denn der Kreisdurchmesser kann bei Annäherung der beiden oberen Punkte kaum noch kleiner werden. Würde man r1 und r2 weiter um den unteren Punkt nach unten klappen, würde der Radius steigen und die Krümmung abnehmen.

Bei unserem Problem ist aber gerade der umgekehrte Prozess zu beschreiben:

An welcher Stelle muss der untere Punkt sein, damit bei gegebenen oberen beiden eine Krümmung entsteht, die gleich derer ist, die, bezogen auf zwei weitere feste Punkte, die aber unterhalb liegen und die einen Kreis mit dem beweglichen bilden, dessen Ebene um die Senkrechte um 90° gedreht ist, also in der x-z-Ebene statt in der y-z-Ebene?

Klingt kompliziert, ist es aber auch:

Kreisbogen mit unteren Punkten z=1

Kreisbogen mit oberen Punkten z=4


Man sieht, dass die Radien der beiden Kreise verschieden sind, die Krümmung des rechten in der y-z-Ebene ist viel größer als die in der x-z-Ebene links.

Jetzt sind sie gleich geworden, was nur bei einer ganz konkreten Position des beweglichen Punktes erfüllt sein kann:

bei beiden Kreisen

gleiche Radien


Im „realen“ Fall liegen nun alle 5 Punkte auf derselben gebogenen Fläche, die nun eine Minimalfläche sein kann, weil im beweglichen Punkt beide Krümmungen entgegengesetzt gleich sind.

Das wäre also ein Komzept, das, auf jeden der sehr vielen Stützstellenpunkte der Anfangskonfiguration angewendet, zur gesuchten Minimalfläche führen kann. Nur: Was muss man machen, wenn man nicht von einer solch symmetrischen Ausgangssituation wie im oberen Beispiel ausgeht? Wie sieht also ein formalisierbarer Algorithmus aus? Die oben eingezeichneten Seitenhalbierenden würden im symmetrischen Fall helfen können, die Verschiebungsrichtung des beweglichen Punktes (jeder aller Punkte wäre der Reihe nach als verschiebbar angesetzt…) zu ermitteln, aber im allgemeinen?

Ein numerischer Algorithmus, der zum „Einschwingen“ eines stabilen Endzustandes führen soll, muss, wie könnte es anders sein, konvergieren können, und zwar für jeden der vielen betrachteten Punkte oder Elemente. (Man kennt vom „Newton-Verfahren“ den Fall, wo bei zu großem Start-Abstand von der geschätzten Lösung das Gegenteil passiert: die Zwischenlösung bewegt sich in falscher Richtung fort, zum Beispiel bei mehreren lokalen Extrema wie bei periodischen Funktionen.)

Stellen wir uns also vor, dass oben im Programm die beiden „oberen Punkte“ noch dichter zusammen stehen. Dann würde eine Bewegung des beweglichen Punktes auf sie zu, die ja durch die Krümmungsauswertung erfolgen muss, zwar den Winkel am beweglichen Punkt etwas vergrößern, die Krümmung aber trotzdem erhöhen, weil der Radius des gemeinsam beschriebenen Kreises kleiner wird. Bei einer programminternen Fortschrittsprüfung müsste also die Bewegungsrichtung umgekehrt werden und statt einer Glättung der Struktur entstünde eine Aufrauhung! Dieser Effekt würde noch größer sein, wenn wir, wie bei „echten“ trägen Strukturen, mit der Trägheit von Massen arbeiten würden und also eine zweimalige Integration der Beschleunigung vornähmen (eine etwa zu geringe Dämpfung der Geschwindigkeit nach dem ersten Integrationsschritt eingeschlossen), um zum neuen Ort des beweglichen Punktes zu kommen.

Es ist deshalb richtig, zwei Arten von Überlegungen anzustellen:

Die erste Frage kann durch konkrete Erfahrung geklärt werden, indem man die entstehenden Bilder auswertet. Wenn beim Wellenring in 2.6.2.1 wüste Ansammlungen von „Nadel-Spitzen“ entstehen, konvergiert der Prozess an verschiedenen Stellen eben nicht:

schwache Nadeln

stärkere Nadeln


Die zweite Frage ist viel komplizierter: Reicht zum Beispiel ein kleiner Bewegungs-Schritt hin zum gegenüberliegenden Seitenmittelpunkt des betrachteten Dreiecks aus? Führt dieser Schritt im nächsten Takt zu einer vernünftigen neuen Konstellation, die nach gleichem Muster bewertet werden kann? Da alle Punkte der Reihe nach gleich behandelt werden, sollte eine gegenseitige Verstärkung der „Glättung“ (mit „Glättung“ ist immer die Annäherung an den stabilen Zustand der gebogenen Minimalfläche gemeint, nicht eine Annäherung an eine ebene Fläche!) erfolgen, um ein Aufschwingen zu vermeiden. (Es keimt die Hoffnung auf, dass vielleicht auch ohne die aufwendige Prüfung der beiden Haupt-Krümmungen die Minimalfläche von „ganz allein“ entstehen könnte…)

Allerdings: Es ist IMMER von ZWEI gleichzeitigen Bewertungen auszugehen, denn je näher man dem stabilen Zustand kommt, desto genauer müssen sich die – anfangs nur ungefähr – gegenüberliegenden Krümmungen aufheben: eben Sattelpunkte sein. Die „Bewegung“ des beweglichen Punktes endet eben genau dann, wenn die zwei entgegengesetzt berechneten sich genau aufheben.

Und: Um dieses Aufheben genau bestimmen zu können, benötigt man eine genaue Berechnung. Andernfalls hört die Bewegung zwar nach dme eingegebenen Algorithmus auf, ohne aber die physikalisch „richtige“ Fläche zu ergeben. Auch das ist in probierten EXCEL-VBA-Algorithmen schon geschehen… Die Prüfung ergab trotz Stillstandes Krümmungen, die sich nicht aufgehoben haben. Fazit: Dann ist der Algorithmus zwar konvergent, aber trotzdem falsch.

Einschub: Finden der Schnittebenen für die Hauptkrümmungen

Es führt also (indirekt bewiesen) kein Weg an der exakten Berechnung des physikalisch-geometrischen Zustands und also seiner Abweichung von diesem vorbei, auch wenn unterschiedliche konvergierende Bewegungs-Ansätze denkbar sind.

Wir probieren das am besten an Beispielen aus, deren Lösung wir kennen.

Zuerst müssen wir klären, wie wir eine Krümmung aus drei Punkten im Raum berechnen, wenn uns ein Algorithmus in der Ebene zur Verfügung steht:

1. Finden der Ebene der drei Punkte im Raum und Transformation der Punkt-Koordinaten in diese Ebene

2. Berechnung des Kreises in dieser transformierten Ebene

Dann müssen wir klären, ob die beiden Krümmungen Hauptkrümmungen sind.

Der umgekehrte Weg, sofort die Krümmungen in den entsprechenden Ebenen zu berechnen, setzt eine stetige Darstellung einer parametrisierten Fläche voraus und ist somit nicht machbar. Die Frage ist also, ob man mit der Auswahl der Stützstellen-Punkte spielt (abstandsunabhängige Punkt-Suche in einem Winkel-Intervall UND Abstands-Intervall zum Beispiel), bis man eine maxímale und eine minimale Krümmung gefunden hat und außerdem prüft, ob beide Ebenen senkrecht aufeinander stehen. Puh!

Man merkt schon, dass die Sehnsucht nach einem – physikalisch plausiblen! –  einfacheren Weg wächst!

Die physikalische Idee ist, abstands- und winkelunabhängige Federkräfte zu installieren, die die Oberfklächenspannung repräsentieren. Da sie aber trotzdem immer in eine bestimmte Richtung wirken müssen, kommen wir wieder auf die Stützstellen-Problematik. Gibt es eine Struktur von Punkten, bei der die konkreten Positionen bei der Superposition der Kräfte unerheblich sind? Spannende Frage!

 

(Fortsetzung folgt!)

 

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