Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.3.3.3 Beethoven

Heute, am Heiligabend 2020, kurz nach dem großen Beethoven-Jubiläum, wollen wir unsere musikalischen und psychologischen Thesen und Erkenntnisse auf den dritten Satz der d-Moll-Klaviersonate anwenden.

Was sehen wir?

1. Es geht gleich mit einem „Doppel-Auftakt“ los: Erstens das zweite Sechzehntel des vorletzten Achtels und zweitens die beiden Sechzehntel des letzten Achtels führen zur Prime im Volltakt. Diese drei Sechszehntel machen den gleich den Anfang des Stückes im Ablauf sehr flüssig, und zwar geradezu programmatisch, denn es geht in reinen Sechzehnteln lange weiter.

2. Das musikalische „Kopfkino“ ist in voller Alarmbereitschaft, weil der Komponist (wie ein guter Karikaturist oder ein guter Erotik-Fotograf) so viel weglässt, dass der hartmonische Bezug im Kopf des Hörers selbst erstellt werden muss. Und was passiert ebenda? Man vermutet (nachträglich!, siehe 3.) die Dominante im ersten Ton des Auftakts, und bevor man den zweiten Ton der Subdominante zuordnen könnte, ist der schon als Durchgangston samt drittem Ton vorbei, wird also zur Sexte der Dominante und damit zu einem Doppel-Leitton (verwandelt in die Terz der Tonika) mit zwingender Abwärts-Auflösung zur Prime der Tonika. Diese ist durch den Auftakt also gekonnt umspielt („dynamisch eingerahmt“) worden.

3. Was wir nicht sehen, aber wissen oder wenigstens ständig erleben, ist, dass das psychologische „Jetzt“ etwa einen Herzschlag lang ausgedehnt ist, zumindest aber kein „Punkt“ auf der physikalischen Zeitachse. Dieses gesamte „Jetzt“ wird gleichzeitig ausgewertet und auf diese Auswertung der Erwartungsbaum gesetzt. Er tendiert zu d-Moll und wird durch die Arpeggien der linken Hand über drei Takte hinweg glänzend bestätigt. Rückwirkend (siehe Hinweis in 2.) ordnet er den Auftakt nun tatsächlich richtig ein und die Frage nach der einzelnen Einordnung der drei Auftakt-Töne wird obsolet, weil die beiden letzten tatsächlich kontrapunktisch einfach als Durchgang empfunden werden. Damit ist psychologisch Verständnis und also Ruhe und also Freiraum für neue Eindrücke geschaffen.

4. Die auch in den Volltakten zu sehende (und natürlich zu hörende!) Verstärkung des unbetonten 4. Sechzehntels durch die Tatsache, dass es das einzige Sechzehntel ist, auf das zwei Töne gleichzeitig fallen, bringt ein Rollen in den gesamten Rhytmus, denn dadurch wird die Auftakt-Situation verstärkt transportiert (in der rechten Hand ist sie ja sowieso vorhanden!). Auch im vierten Takt, wo es in die Dominante geht, bleibt das so.

5. Eine Super-Feinheit des Komponisten ist es, das das zweite Sechzehntel jeden Taktes in der linke Hand bis zum Taktende durchgebunden ist, was dem in dieser Ausgabe angeführten Fingersatz widerspricht und auch mit dem rechten Pedal nicht separat zu verifizieren ist. Jemand, der diesen Umstand sehr ernst nimmt, ist Daniel Barenboim, der in der linken Hand deshlab vom ersten aufs zweite Sechzehntel springt! (Siehe die You-Tube-Einspielung https://www.youtube.com/watch?v=tiJjoFQtMvg !)

6. Nachdem im 8. Takt die Rückkehr zur Tonika gelungen ist und alles eigentlich (grob harmonisch gesehen) als sehr langweilige Zweier-Kadenz erscheint, kommt die Modulation in Fahrt: Über die Subdominante und deren parallele Dur-Tonart geht es zur Dominante, was immer einen chromatischen Effekt ermöglicht, der eine besondere Leit-Ton-Dynamik hervorruft: es – cis- d in der linken Hand der Taktanfänge als Bass-Gang zusammen mit den kleinen Abwärts-Terzen der rechten Hand (verminderter Dreiklang als harmonische Leit-Situation)! In den nächsten Takten wird dieser Zwischenschluss noch einmal aufgerollt und variiert (geht außerhalb der Abbildung weiter…).

Nun ist der Erwartungsbaum also eingestimmt und kann dann im weiteren Verlaufe des Satzes immer wieder mit Neuerungen überrascht werden. Das kann jeder geneigte Leser selber nachempfinden und mit den obigen Ansätzen verfolgen!

Es sei die Bemerkung erlaubt, dass manche „moderne Komponisten“ offenbar wenig von der Psyche des Hörers halten, wenn sie diese bewusst nicht ansprechen wollen, indem sie konstruktivistische Ideen vorlegen, die vielleicht gruppentheoretisch Neuland betreten, aber mit Musik im eigentlichen Sinne  nichts mehr zu tun haben. Am anderen Ende der Skala befinden sich jene, die lediglich Arpeggien unterschiedlicher Akkorde ohne harmonische Überleitung aneinanderreihen und dann im Radio oder Fernsehen als völlig überflüssige „Untermalung“ zu Gesprächen ergänzt werden (Hier drängt sich die psychologische Vemutung auf, dass man es dem Menschen-Typus recht machen will, der ohne Musik keine Hausaufgaben machen kann und selbst am Fahrradlenker ein Radio benötigt…).

Ein auf den ersten Blick harmonisch sehr ähnlicher Auftakt ist bei Chopin zu entdecken.

 

 

 

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