Der Riesen-Mond
Verwunderliche Beobachtung 2: Die wunderliche optische Vergrößerungsachse
Als ich etwa 40 Jahre alt war, wurde mir zu Ehren der Mond noch größer, als er manchmal schon in Dresden gewesen ist. Besonders hat mich gewundert, dass er nicht runtergefallen ist.
Ich war in der späten Abenddämmerung im Spätherbst auf dem Fichtelberg und lief wieder hinunter, rechts vor mir der Keilberg, links davon Oberwiesenthal und mitten über der Kleinstadt der fast volle Mond im leichten Dunst. Man konnte genau sehen, dass er genau über der Stadt hing, still und schwer und gleichzeitig schwerelos. Riesig. So etwa 20° über dem Horizont. Dichter dran als der Keilberg, der nur noch schwach zu erkennen war.
He, wie soll das gehen? Ich wusste doch, dass der Mensch zwar erstens an die Himmelskuppel als Halbkugel glaubt und aber zweitens weiß, dass es auf der Erde Orte hinter der Kuppel gibt und dass er deshalb denkt, der über den fernen Häusern am Horizont aufgehende Mond müsse größer sein als der am Himmel, denn am Horizont MUSS er ja weiter weg sein als sonst da oben, denn sonst wäre er ja nicht HINTER den Häusern. Und weil er so weit weg ist, muss er ja riesig sein, wenn man ihn überhaupt noch so deutlich groß sehen kann. Am Himmel oben, da verliert er sich mit seinem halben Winkelgrad in den blauen oder schwarzen Weiten, da ist er winzig, denn höher als 3 km können wir Menschen kaum „fühlen“, aber in der ebenen Ferne kennen wir uns etwa bis 15 km aus. Wenn also der Mond von 3 km plötzlich zu 15 weggerückt wird und immer noch genauso groß erscheint, muss er ja gewachsen sein, logisch.
Ja, das ist ja alles schon lange klar, auch, dass die blöden Erklärungsversuche mit Brechungen in der unteren Atmosphäre und was es sonst noch so für Zauber gibt, alle leicht widerlegbar sind. Beispiel: Eine ringförmige Vergrößerungsbrechung müsste eine Achse haben, die genau zwischen dem Mond und dem einzigen auserwählten Menschen verläuft, der daran glaubt. Und Schichten können nun mal nur in einer Dimension verformen, was man an dem Sonnen-Ei (das dann langsam zum Spiegel-Ei wird) beim Untergang überm Meer gut beobachten kann.
Aber der Fichtelberg-Oberwiesenthal-Mond war ja nicht unten, sondern ziemlich oben. Wieso war er erstens so groß und zweitens trotzdem so nah oder umgekehrt?
Es muss die Psychologie eines Flachländers gewesen sein, der durch die im Mondlicht schimmernden Berge plötzlich ein neues Längen-Höhen-Verhältnis-Verständnis entwickelt hat. Wie eine Lampe hing er da und beleuchtete sowohl den Fichtelberg als auch den „dahinter“ liegenden Keilberg. Offenbar war außerdem die Flankenneigung des Keilbergs kleiner als der Winkel des Mondes überm Horizont und offenbar sah der Keilberg aber steiler aus, so dass für den Mond nur übrig blieb, VOR dem Keilberg zu sein, um ihn beleuchten zu können. Also hat er sich über die Stadt gehängt, fast zum Greifen nah.
Ich bin stehen geblieben und habe den Irrtum genossen, habe es persönlich genommen und mich bei ihm bedankt, dass er mir heimleuchtet in die Konferenzherberge zum Abendvortrag. So entstehen Götter: Man nimmt bei günstiger Gelegenheit persönliche Beziehungen zu ihnen auf.
Ziehen wir ein Fazit aus den beiden Mond-Geschichten:
Es gibt offenbar eine kritische Entfernung, hinter der wir unsicher werden in der Beurteilung der räumlichen Verhältnisse. Das ist der „Himmel“. Dieser scheint aber, anders als angenommen, keine Halbkugel zu sein, sondern ein etwas flachgetretener halber Gummiball (Halber Flacher Rotationsellipsoid, sozusagen). Innerhalb dieser Grenzen sind Wahrnehmung und Interpretation widerspruchsfrei möglich, wie zwei Beispiele zeigen sollen:
Fliegt ein Flugzeug mit Kondensstreifen am wolkenlosen klaren Abendhimmel von Westen her schräg auf den Balkon von Stephans Familie zu und dann im Süden vorbei, so sieht man es schon von Leipzig her kommen. Man hat kein Problem damit, den Kondensstreifen als eine gerade Linie im dreidimensionalen Raum zu interpretieren, obwohl ihr Winkelabstand von Horizont südlich von Dresden seinen Maximalwert hat. Wir können uns also eine parallel zur Horizontebene liegende Ebene leicht vorstellen und auch, wie sich eine gerade Linie in dieser Ebene VOR dem Himmel ausnimmt. In diesem Fall geht unsere exakte Wahrnehmung über 100 km in die Ferne und 10 km in die Höhe. Wir haben also mit Flugzeugen eine reproduzierbare sinnliche Erfahrung. Niemand käme auf die Idee, aus veränderlichem Winkelabstand zum Horizont zu schließen, das Flugzeug würde erst steigen und dann sinken.
Noch einfacher ist es im rechtwinkligen Wohnzimmer. Ich erkenne ohne weiteres, dass die Kante zwischen Decke und Wand gerade ist, obwohl meine Augen keine Parallelprojektion liefern. Im Gegenteil: Aus der Veränderung der Linienform schließe ich richtig, dass ich mich im Raum in eine bestimmte Richtung bewege! Ich kann aus der Änderung der Verzerrung die Änderung meiner Position auch bei nur einem geöffneten Auge bestimmen, was bei Parallelprojektion gar nicht möglich wäre! (Das dreidimensionale Rechenergebnis unseres Gehirns bei der Auswertung zweier Zentralprojektionen unserer beiden Augen liefert einen Raumeindruck auch bei Stillstand: Lebensnotwendig für Räuber im dreidimensionalen Raum und für Beute-Tiere, die im Dreidimensionalen sicher greifen können müssen (Affen).
Und was haben wir in der Schule darüber gelernt? Zuerst haben wir im Technischen Zeichnen die Kavaliersperspektive mit der Parallelprojektion gelernt. Parallele Linien sind dort auch immer parallel, nach hinten gehende Linien werden unter 45° gemalt, wenn sie rechtwinklig abgehen. Und dann haben wir die Perspektive gelernt. Dann treffen sich parallele Linien im Unendlichen, also zum Beispiel in Horizontpunkten. Ein rechteckiger Tisch hat dann zwei „Fluchtpunkte am Horizont. Das geht so:
Jetzt stellen wir eine Reihe Tische dazwischen, denn haben wir drei Fluchtpunkte:
Das sieht echt doof und total krumm aus und erinnert an Fotos, die mit Weitwinkelobjektiv gemacht worden sind, weil der Kirchturm zu hoch war oder das Schiff zu lang: Alle geraden Linien sind krumm, doofer Fotoapparat!
Aber Stopp! Alle Regeln sind eingehalten worden, wie bei den Sonnenstrahlen zum Mond beim ersten Problem dieser Sammlung.
Es gibt einen kleinen Trick, wie man solche Bilder ansehen kann, ohne sie doof finden zu müssen:
Man geht ganz dicht an sie heran, so dass man den Kopf (oder nur die Augen!) drehen muss, wenn man von einem zum anderen Bildrand wechseln muss. Diese Kopf-Augen-Drehung wird von unserem Gehirn mit berechnet, um aus dem zweidimensionalen Bild ein Abbild eines dreidimensionalen Raumes herzustellen, so dass dann alles besser auszusehen scheint. (In Gemäldegalerien wird das leider nicht so gern gesehen, aber hier darf man ganz dicht rangehen, wirklich!! Siehste, alles wird gut.) Das macht das Gehirn auch, wenn ein Auto vor dem Fenster des ersten Stocks, aus dem wir die Straße betrachten, vorbeisaust, und wir den Kopf mitdrehen: Wir haben keine Angst, dass der Fahrer plötzlich von der geraden Straße abkommt, bloß weil wir erst die Vorderseite und dann die Hinterseite des Autos sehen. (Wer soll sich darüber wundern?? Wir schon, wenn wir ehrlich sind und alles verstanden haben. Ach nee, weil wir es verstanden haben, wundern wir uns ja gerade nicht mehr, höchstens darüber, dass uns das kein Lehrer beizubringen gewagt hat, dass man die Tischreihe wie lauter Momentaufnahmen eines fahrenden Auto-Tisches sehen kann. Oder hattest Du bessere Lehrer als ich??)
Der Fotoapparat weiß nicht, dass der Horizont eine Gerade sein soll. Je nachdem, wohin wir seine optische Achse richten, mittelt er zwischen der Krümmung der Tischreihe und des Horizonts. Er ist ein Künstler des Kompromisses. (Wer denkt da jetzt an die Sonne-Mond-Thematik, na?)
Jetzt klingelt’s zur Pause. Morgen kommt das nächste Thema.
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