Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


2.8.6.3.3 Spezialfall Ring-Galaxis

Kann man verstehen, warum ein Ring aus vielen Sternen eine höhere Umlaufgeschwindigkeit aufweist, als man erwarten würde? Kann man das auf Saturn-Ringe oder gar Staub-Ringe um Galaxien übertragen?

Als Astronomie-Laie werde ich immer wieder mit Spezialfällen konfrontiert, die mir völlig neu sind, wenn ich vom Standpunkt des Physikers aus versuche, das Universum mit einfachen selbst gebastelten Modellen besser zu verstehen, als es mit den Keplerschen Gesetzen allein möglich ist.

Ein solcher „speziell spezieller Spezialfall“ ist der Kreis-Ring aus gleichwertigen (also gleich schweren UND im gleichen Abstand vom Mittelpunkt UND untereinander gleich weit entfernten) Massen. Er zeigt, was seine Umlaufgeschwindigkeit angeht, völlig überraschende Eigenschaften! Der Reihe nach:

1. Wiederholung: Probemasse kreist um Zentralmasse

Im Falle einer Kreisbahn haben wir es mit dem Gleichgewicht von Zentripetalkraft und Fliehkraft zu tun:

Fz = Ff, also:  G*M*m/r²  = m*v²/r, also:

(1) G*M/r = v²

v fällt also mit der Wurzel des Radius nach außen hin ab.

2. Zentralmasse wird zum symmetrischen Doppelstern „halbiert“, der auf gleicher Kreisbahn rotieren soll. (Eine Zentralmasse existiert jetzt nicht mehr!!)

Fz = Ff, also: G * M/2 * (M/2) /(2r)² = M/2 * v²/r, also:

(2) G*M/(8r) = v²

also etwa 2,8-fach langsamer als das v in (1).

3. Nun splitten wir den Doppelstern abermals zu einem Vierer-Ring. Jetzt gibt es keine stabile Bahn eines Zwei-Körper-Systems mehr, sondern einen labilen Ring. Seine Stabilität interessiert aber noch nicht, sondern nur seine Geschwindigkeit. Auf jede Masse wirken jetzt drei Anziehungskräfte, die durch die eigene Fliehkraft ausgeglichen werden müssen. Dieses Spiel können wir immer weiter treiben, indem wir die Halbierungen fortsetzen.

Es ergibt sich eine Summe von N-1 Kräften, die auf jede der N Massen wirkt. Man kann sie paarweise zusammenfassen, wenn alle Massen äquidistant sind. Nennt man den Winkel, der die Radien zu jedem Paar bilden, a, und den Winkel, der von Radius und Verbindungslinie der beiden Massen gebildet wird, b, so gilt:

a = 2*π/N  ;  b = (π-a)/2

Die Kraft zwischen zwei benachbarten Massen ist dann bei großer Anzahl N rund

F = G * (M/N)² / (2πr/N)²  (Sehne näherungsweise gleich Bogen gesetzt)

Die zentripetale Komponente in Radiusrichtung ist dann

Fz = F*cos(b)

cos(b) = cos((π-2*π/N)/2) = cos(π/2 – π/N) = sin(π/N)

Fz = G * (M/N)² / (2πr/N)²*sin(π/N) = M/N * v²/r

(3) G*N*M/(4π²r)*sin(π/N) = v²

Verdoppelt man jetzt wieder die Massen-Zahl N bei gleicher Gesamtmasse M, so halbiert sich jedes Element in seiner Masse und es halbiert sich der Abstand zwischen ihnen.

Fz = G*(M/(2N))² / (2πr/2N)² * sin(π/2N) = M/(2N)*v²/r

(4) 2*G*M*N/(4π²r) * sin(π/2N) = v²

Mit der Potenzreihenentwicklung des Sinus um seinen Nulldurchgang können wir schreiben, dass sin(x/2) = 1/2 sin(x) ist, womit (4) sich vereinfacht zu

(4a) N*G*M/(4π²r) * sin(π/N) = v²

Damit ist das v in (4a) in erster Näherung genau so groß wie das in (3)!

ABER: Es sind noch mehr Massen da, die eine Anziehungskraft ausüben!!

Schon allein bei dieser oben durchgeführten Splittung ist am alten Ort der alten Masse M/N eine zusätzliche von M/2N vorhanden, die ein Viertel der alten Kraft (mit altem Abstand und altem Winkel) zusätzlich liefert.

Summiert man das alles auf, so erhält man das erstaunliche Ergebnis, dass die aus der Summe der Zentral-Kräfte folgende Zentralbeschleunigung mit wachsender Splittung zunimmt, und zwar mit folgender Funktion:

Beispiel für 24 Ringmassen mit roter Probemasse

Verteilung der Radialkraftkomponenten der 24 Ringmassen auf die Probemasse

Logarithmisches Wachstum der Radialbeschleunigung mit der Einzelmassen-Anzahl bei konstanter Gesamtmasse in einem Ring konstanten Durchmessers (die Gleichgewichts-Kreis-Geschwindigkeit steigt dann mit der Wurzel der Radialbeschleunigung)

Wie kann man sich dieses Ergebnis plausibel machen?

Würde man jeweils zwei benachbarte Ringmassen mit masselosen Stangen miteinander starr verbinden, erhielte man hantelartige Pärchen, deren Hälften aufeinander keine beschleunigende Zentralkraftkomponente hätten (zumal sich sowieso alle inneren Kräfte paarweise aufheben). Diese würden also für die Summation fehlen. Die Kräfte zwischen verschiedenen Hanteln können wieder aus den oben schon berechneten zusammengesetzt werden und sind somit mit Sicherheit geringer als die der wieder getrennten Hanteln.

Folgen für eine gravitative Ringstruktur:

1. Je feiner die Massen in einem idealen Ring gesplittet sind, desto größer ist seine Rotationsgeschwindigkeit. Überlagert mit der Radialbeschleunigung durch eine Zentralmasse sind also Ringstrukturen (radiale Korn-Größen-Verteilungen) denkbar, die eine konstante (im Sinne von Radius-unabhängig!) Winkelgeschwindigkeit aufweisen, die sonst nur im Inneren einer homogenen Kugel-Verteilung auftritt.

2. Über die Stabilität einer solchen Anordnung kann damit aber noch keine Aussage getroffen werden.

3. Wahrscheinlich ist folgender Gedanken-Gang richtig: Der Gradient des Potentials (also die wirkende Kraft) ist bei einem dichten Ring aus kleinen Massen zwar größer als bei einem losen Ring aus größeren Massen, seine Reichweite dafür aber geringer. Kleine Schwankungen (Fluktuationen), die bei größerem Gradienten wahrscheinlicher sind, führen schon nach kurzen „Wegen“ zum Verlassen dieser schmalen Potentialfurche und damit zu deren Abflachung. Aus diesem Grunde wird man den „idealen Kreisring“ selten vorfinden können, sondern eher einen statistisch „ausgefransten“, um den herum die Einzelmassen schwingen. Aber auch dieser Ring wird eine höhere Umlaufgeschwindigkeit haben als zwei Einzelmassen eines symmetrischen Doppelsterns (dessen „Ausfransen“ wäre ein punktsymmetrisches Paar von Kepler-Ellipsen).

Code der Berechnung in VBA, die zu den obigen Diagrammen führte:

Prüfen wir einfach die Richtigkeit dieser Vermutungen durch eine Erhöhung der Komplexität der Anordnung:

Jetzt soll der Ring aus zwei Teilringen bestehen, und zwar aus zweimal der gleichen Anzahl gleich schwerer Teilmassen.

Schematische Anordnung der beiden Ringe aus gleich vielen gleich schweren Teilmassen (die zur Berechnung verwendeten Bezugs-Einzelmassen sind hervorgehoben – es wurden über vier Schleifen alle 2-Körper-Kräfte addiert)

Gibt es Parameter-Sätze (Anzahl der Teilmassen und Abstand der Teilringe), die zu gleicher Winkelgeschwindigkeit der beiden Teilringe führen?

Die Antwort lautet: NEIN!

Begründung: Für den Außenring erhöht sich die Radialbeschleunigung IMMER, wenn weiter innen eine Masse existiert, und für den Innenring reduziert sie sich durch die nach außen ziehende Komponente der nahen Massen des Außenrings. Diese Effekte wirken stärker als der Radius-Unterschied. (Die äußere Kreisbahn-Geschwindigkeit wächst also überproportional mit dem Radius.)

Folgende Tendenzen für die Winkelgeschwindigkeits-Differenz sind „excelperimentell“ ermittelt worden:

1. Mit wachsendem Teilring-Abstand wird der Außenring relativ schneller. (Radial-Winkel-Verkleinerung überwiegt Abstands-Vergrößerung!) Oder anders herum: Der Innenring müsste deutliche langsamer sein, um auf Kreisen bleiben zu können.

2. Mit wachsender Teil-Massen-Anzahl (bei gleicher Gesamtmasse!) wird der Außenring realtiv schneller. (Radialwinkel-Verkleinerung UND Abstands-Verringerung –  siehe oben!)

3. Sowohl für 1 als auch für 2 kann der Fall auftreten, dass für den Innenring eine nach außen ziehende resultierende Kraft (Radialbeschleunigung a wird negativ!) entsteht, so dass überhaupt kein stabiler Kreisbahn-Winkelgeschwindigkeits-Betrag mehr angegeben werden kann (negative Wurzel bei w²=a/r), die Teilchen also mit Sicherheit den Außenring durchfliegen müssen.

ABER: Wenn wir den Parametersatz erweitern und eine ZENTRALMASSE zulassen, gibt es neue Aspekte:

4. Mit einer zusätzlichen und wachsenden Zentralmasse muss der  Unterschied der Winkelgeschwindigkeiten kleiner werden können, bis er auch verschwinden kann, denn nach den Kepler-Gesetzen (Kepler 3) sinkt die Winkelgeschwindigkeit nach außen hin, was sich dann also irgendwann mit der nach außen steigenden Winkelgeschwindigkeit der Ringe ausgleichen muss. Hier ein Beispiel für die oben grafisch gezeigte Konstellation:

Für eine Ringmasse von 100 (aufgeteilt auf 2 mal 24 Teilmassen) und eine Zentralmasse von 1778 ergibt sich für Ringradien von 0,9 und 0,8 bei einer Gravi-Kosntante von 1 ein relativer Unterschied der Winkelgeschwindigkeiten von etwa 1/50000 (nämlich 51,670 und 51,671), was iterativ noch weiter verbessert werden kann.

Hier das dazugehörige Bild:

5. Das detaillierte Verhalten der einzelnen Ringmassen muss für eine genauere Darstellung diskret modelliert werden. Das erfordert einen wesentlich höheren Rechenaufwand und eine andere Plattform als VBA. Hier könnte mit einer statistisch ermittelten Anfangs-Verteilung in einem relativ flachen und relativ schmalen Kreis-Ring begonnen werden. Man könnte dann beobachten, mit welchen „chaotischen“ Bahnen sich alle Teilchen in ihrem gemeinsamen Feld im Mittel kreisförmig bewegen. Eine „glättende“ Zentralmasse hinzuzufügen wäre auch dort erforderich. Mit Sicherheit gäbe es manchmal ein Herausschleudern aus dem gemeinsamen Potential und, wenn man es im Code hinzufügt, manchmal auch ein Einfangen von statistisch angebotenen Exo-Teilchen, ganz in Analogie zum „Staubsauger Saturn“.

Nachbemerkung:

Das Kraftfeld um einen starren Ring ist schon berechnet und vorgestellt worden ( siehe „Überlegung 4“ im Abschnitt 2.8.3 Heuristische Schritte zum Verstehen der schwerkraft-Trajektorien“). Sicher kann dieses auch für andere Teilchen außerhalb eines Staubringes verwendet werden, um zu einer einfacheren Superposition aller Kräfte zu gelangen. In diesem Abschnitt ging es um stabile Umlaufgeschwindigkeiten auf Grund interner Wechselwirkungen im Ring.

Man hätte im obigen Abschnitt auch den umgekehrten Weg gehen können und statt der jeweiligen Vervielfachung von Punktmassen einen starren Ring sukzessive aufschneiden können. Der hier begangene Weg erscheint mir aber der heuristisch einfachere.

Kommentare

Holger Pötschick am Sonntag, 3. April 2022:

Lieber Herr Adolphi, mit großem Interesse habe ich Kapitel 2.8.6.3.3 Spezialfall Ring-Galaxis gelesen, da ich gerade einen Vortrag zum Thema Dunkle Materie vorbereite. Mir fällt dabei sofort eine Analogie zu der beobachteten Radialgeschwindigkeiten der Sterne in den äußeren Randbereichen von Galaxien ein, deren „zu hohe Werte“ auf die postulierte Dunkle Materie zurückgeführt wird. Ihre Rechnungen jedoch zeigen ein anderes Bild: Die hohen Umlaufgeschwindigkeiten der Außenbereiche können durchaus durch die innere Dynamik der baryonischen Materie zurückgeführt werden, zumindest im Ansatz. Würden Sie mir da zustimmen?

Joachim Adolphi am Dienstag, 5. April 2022:

Lieber Herr Pötschick, herzlichen Dank für Ihr Interesse an meinen einfachen Modellierungs-Ansätzen!
Ja, ich kann Ihnen zustimmen. Das Ergebnis hat mich selber auch überrascht. Die gedanklichen Schritte vom unsymmetrischen Zwei-Körper-Problem zum symmetrischen Doppelstern und dann zum weiteren Aufteilen der Massen (bei konstanter Gesamtmasse!) bei gegebenem Abstand zum Schwerpunkt der Verteilung lassen einen interessanten Verlauf der Kreisbahngeschwindigkeit entstehen.
Die „Verschmierung“ eines solcherart entstandenen Rings führt lediglich zu zusätzlichen „Schwingungen“ um dessen Torus-Seele. Mit einer Art gemittelter „innerer Reibung“ sollte man dann auch zu flachen Ringen kommen können, wie wir sie vom Saturn kennen. Den zusätzlichen Einfluss einer (ellipsoidischen?) Zentralmasse habe ich noch nicht untersucht. Vielleicht wollen Sie sich daran versuchen?
Liebe Grüße aus dem Elbtal
Joachim Adolphi

Gerd Becker am Donnerstag, 26. Mai 2022:

Zwei Sachverhalte scheinen mir bedenklich für die Vergleichbarkeit der verschiedenen Modelle. 1. Es ist häufig von Fliehkraft die Rede, die physikalisch nicht existiert. Der Formelwert der Fliehkraft ist exakt die Trägheitskraft der Antwort der ständig zum Massezentrum beschleunigten Umlaufmasse. Die Umlaufmasse unterliegt einer ständigen Beschleunigung zum Zentralkörper. Würde bei vorliegender Bahngeschwindigkeit der Bahnradius zu klein, steigt eben diese Trägheitskraft und verhindert den Sturz in die Zentalmasse. Es scheint also die Fliehkraft den Umlaufkörper zu halten. Trotzdem fällt die Umlaufmasse ständig zur Zentralmasse hin. Dieses dynamische Gleichgewicht ist gegen Abstürzen stabil, nicht jedoch gegen geringste dezentrale Kräfte, egal woher diese stammen.
2. Scheint mir für die Beurteilung der Vergleichsergebnisse noch wichtiger: Wir gingen von einer Umlaufmasse m << gegen M aus. Bezogen auf die gesamte Schwerkraftenergie bedeutet das wenig Energie im Vergleich zur gehoben Masse M/2 . Beim Teilen der Zentralmasse wäre beide Hälften der Zentralmasse gewaltig zu heben. Diese Hebungsenergie wird bei der Ringverteilung am größten wobei aber die Kräfte auf einen Teilkörper minimal werden. Minimale Teilkraft ermöglicht aber die Lösung aus der Keplerschen Gravitationsbindung mit fast jeder x-beliebigen Geschwindigkeit.

Joachim Adolphi am Freitag, 27. Mai 2022:

Lieber Gerd Becker,
schön, mal wieder von Ihnen zu hören. Herzlichen Dank für die kritischen Bemerkungen, die zu Recht darauf hinweisen, dass ich mich unklar ausgedrückt habe.
Im Grunde gehe ich immer von zwei unstrittigen Gesetzen aus, dem Newtonschen Gravitationsgesetz (das den Zusammenhang zwischen zwei Massen, ihrer Entfernung und der Anziehungskraft beschreibt) und dem Newtonschen Beschleunigungsgesetz (das den Zusammenhang zwischen Kraft, Masse und Beschleunigung beschreibt).
Gehrt man in ein beschleunigtes Bezugssystem über, kommen neue Kräfte, nämlich Scheinkräfte wie die Fliehkraft oder die Corioliskraft, hinzu. Auch Zwangskräfte durch mechanische Bedingungen können in einem System hinzukommen. Man sollte das also klarer kommunizieren, als ich das getan habe.
Mit dem Axiom der entgegengerichteten gleich großen Gegenkraft (Kräfte treten also nur paarweise auf!) und den beiden oben angeführten Gesetzen kann man alles (zumindest durch numerische Integration) berechnen, egal wie man es bezeichnet.
Das Mißverständnis, aus dem Ihre Kritik der Lösung für die ringförmig angeordneten Massen resultiert, ist andere Art und ebenfalls meiner unklaren Beschreibung zuzuschreiben. Wenn ich die Zentralmasse in zwei und dann noch mehr Teilmassen zerteile, ist das heuristisch und nicht dynamisch gemeint. Ich will NICHT die Genese der Teilung beschreiben, sondern NUR einen heuristischen Vergleich von quasi nebeneinander existierenden unterschiedlichen Aufteilungen einer gegebenen Gesamtmasse auf einzelne Teilmassen in jeweils stabilen Rotationen berechnen, um mir ein Bild über die dabei existierenden Bahngeschwindigkeiten zu machen. Ich frage also noch nicht nach der Genese einer Galaxie, sondern nur nach den zu erwartenden Bahngeschwindigkeiten unter unterschiedlichen Voraussetzungen der Masseverteilung.
Wenn Sie Vorschläge für Ansätze zu einer Genese unterbreiten könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber bitte bedenken Sie, dass mein Rechner die Wechselwirkungen von mehr als 1.000 Teilmassen nicht mehr verarbeiten kann!
Herzlich Grüße ein paar wenige Kilometer nach Süden
Joachim Adolphi

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