Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


1.0.1 Abbildung und Wahrheit

Wenn eine „Struktur“ als Folge einer Gesetzmäßigkeit gewertet wird, wie groß ist dann der „Wahrheits“-Gehalt unserer Wertung, also unserer Erkenntnis über die Abläufe in der objektiven Realität?

In der menschlichen Sprache gibt es mehrere Wörter, die eigentlich die Qualität von Beziehungen betreffen, oft aber leichtsinnig oder unbewusst als Begriffe für Fakten verwendet werden: Liebe, Freiheit, Wahrheit, …

Hier geht es jetzt um die Wahrheit. Eine in den Naturwissenschaften übliche Verwendung des Wahrheits-Begriffes lautet etwa so:

„Wahrheit ist der Grad der Übereinstimmung einer Aussage mit der objektiven Realität.“

(Dabei ist die „Aussage“ im übertragenen Sinne als eine Art „Abbildung im menschlichen Geist“ zu verstehen.)

(Eine „Wahrheit an sich“ gibt es also nicht!)

(Der Grad der Übereinstimmung kann sich verändern, im besten Falle mit veränderter Aussage schrittweise verbessern!)

(„Wahrheit“ nicht verwechseln mit dem Begriff der formalen „Richtigkeit“ in Bezug auf festgelegte Regeln!)

Zu der erwähnten Aussage kann man auf verschiedenem Wege kommen:

  1. spekulativ (reine Annahme: „Nehmen wir mal an, dass …, dann müsste folgen, dass…“)
  2. hypothetisch (extrapoliert: „Gehen wir dann weiter, sollte folgendes passieren: …“)
  3. sinnlich (erfahrungsmäßig: „Man sieht jedesmal, wenn …, dass…“)
  4. messtechnisch (protokollarisch: „Die Messergebnisse zeigen eindeutig, dass…“)
  5. logisch (geschlussfolgert: „Da …  und … regelmäßig … , ergibt sich, dass …!)

Den Grad der Übereinstimmung  kann man nur durch „Messung im weitesten Sinne“ erhalten. Daraus ergibt sich das Problem, dass im Falle 4 ein Zirkelschluss entstehen kann. (Hier sollte also eine unabhängige zweite Linie der Schlussfolgerungen aufgebaut werden.)

In der naturwissenschaftlichen Praxis hat sich eingebürgert, dass ein zweites, unabhängiges Team zum gleichen Ergebnis kommen muss, bevor man von einem für die weitere Arbeit relevanten Wahrheitsgehalt der Aussage ausgeht. Die mit der Aussage zusammenhängende These, Theorie, Formel, Technologie usw. ist dann also „richtig“ im Sinne von widerspruchsfrei und also in der Folge für weitere Untersuchungen anwendbar. Die Aussage selbst ist das Ergebnis wissenschaftlicher Tätigkeit, also ihr „Produkt“.

(Interessanterweise kann man das eongschränkt sogar auf den Markt anwenden: Produkte, die gekauft werden, sind „richtig“ und haben den „richtigen“ Preis. Die Aussage, sie seien verkäuflich und also „richtig“, ist dann ebenfalls wahr. Diese Aussage ist allerdings grundsätzlich unabhängig von einer Bewertung des Produkts selbst. Sie betrifft dafür aber das Auftreten als erfolgreicher Verkäufer.)

Hieraus erhellt, dass die naturwissenschaftliche „Wahrheit“ relativ ist. Das kann besonders dadurch hervorgehoben werden, dass die Aussage bewusst auf diejenigen Aspekte des beschriebenen Zusammenhangs oder der beschriebenen Tatsache beschränkt wird, die zweifelsfrei in das Ergebnis einfließen. Damit ist jedes Ergebnis als Zwischenergebnis qualifiziert und enthält indirekt schon den nächsten Forschungsauftrag zur weiteren Vertiefung oder Verallgemeinerung.

Beispiel 1 (siehe Abschnnitt 2.8):

Man kann sowohl theoretisch ableiten (2. hypothetisch) und experimentell (4. messtechnisch) prüfen, dass in jedem radialsymmetrischen Kraftfeld bei reibungsfreier Bewegung Kreisbahnen möglich sind. Dazu lassen sich entsprechende mathematische und physikalische Formeln aufstellen.

Dann kann man experimentell (und durch Natur-Beobachtung am Himmel) erkennen, dass auch Ellipsen vorkommen. Der mathematisch-physikalische Apparat wird entsprechend erweitert.

Dann kann man experimentell und durch Beobachtung erkennen, dass die Ellipse „nicht stabil“ sein muss, sondern eine „Perihel-Drehung“ des Merkurs aufweist. Wieder kann man den formalen Apparat angleichen.

Dann kann man feststellen, dass die gemessenen Werte der bisherigen Theorie immer noch nicht entsprechen und neue Hypothesen für weitere Ursachen der Abweichung aufstellen.

Am Ende kann alles in eine geschlossene Theorie gegossen werden, die alle vorherigen (auf die bekannten eingeschränkten!) Fälle als Spezialfälle einschließt.

„Zum Schluss“ oder „am Ende“  dieses Erkenntnisprozesses kann man also eine „hierarchisch gegliederte Serie von wahren Aussagen“ über die Eigenschaften eines Systems treffen:

System: Anzahl von real bewegten realen Körpern in real gekrümmter Raum-Zeit -> Struktur: chaotisch, aber raum-zeitlich vorwärts determiniert (und berechenbar, wenn Anfangs- und Randbedingungen komplett bekannt)

Einschränkung 1: nichtrelativistische Betrachtung

System: Anzahl von real bewegten realen Körpern im homogenen und isotropen Raum -> Struktur: chaotisch, aber zeitlich vorwärts determiniert (und berechenbar, wenn Anfangs- und Randbedingungen komplett bekannt)

zusätzliche Einschränkung 2: Bewegung der Körper frei von Reibung und Kollisionen

System: Anzahl von real bewegten realen Körpern im homogenen und isotropen Raum -> Struktur: chaotisch, aber zeitlich vorwärts und rückwärts determiniert (und berechenbar, wenn Anfangs- und Randbedingungen komplett bekannt)

zusätzliche Einschränkung 3: Zwei-Körper-Problem, also Ein-Kraft-Problem

System: Zwei beliebige Körper -> Struktur: chaotische 3-D-Rosetten (untereinander punktsymmetrisch) im Schwerpunkt-System, aber zeitlich vorwärts und rückwärts determiniert (und berechenbar, wenn Anfangs- und Randbedingungen komplett bekannt)

zusätzliche Einschränkung 4: rotationssymmetrische Körper

System: Zwei Körper festgelegter Form -> Struktur: regelmäßig präzedierende 3-D-Rosetten

zusätzliche Einschränkung 5: kugelsymmetrische Körper oder Punktmassen

System: Zwei Körper festgelegter Form -> Struktur: ebene Ellipsen

zusätzliche Einschränkung 6: bewusst angepasster Größen-Set Start-Orte und Energien und Drehimpulse oder Start-Orte und Start-Geschwindigkeiten

System: Zwei Körper festgelegter Form und weiterer festgelegter physikalischer Größen -> Struktur: Kreise

Diese schrittweise verstärkten Einschränkungen der Allgemeinheit vom Komplexen zum Einfachen spiegelt in umgekehrter Reihenfolge den historischen Erkenntnisprozess vom Einfachen zum Komplexen wider.

Wir halten also fest:

Unabhängig geprüfte Aussagen können das Prädikat „wahr“ erhalten, wenn eine Übereinstimmung mit der objektiven Realität (und sei es im bewusst eingeschränkten und explizit benannten Sinne) vorliegt.

Das schließt ein, dass man Hypothesen als solche klar benennen muss, solange sie nicht durch eine hinreichende Prüfung bestätigt worden sind. (Interessant in Corona-Zeiten!)

Beispiel 2:

Vor uns steht ein Buchenholz-Stuhl.

1. „Das ist Holz“ ist eine experimentell (durch Vergleich mit der Festlegung, was materialmäßig „Holz“ ist) als zutreffend ermittelte Aussage und also „wahr“.

2. „Das ist ein Stuhl“ ist eine experimentell (durch Vergleich mit der Festlegung, was ein strukturmäßig „Stuhl“ ist) als zutreffend ermittelte Aussage und also „wahr“.

3. „Das ist ein hölzerner Stuhl“ ist also auch erstens „wahr“ (überprüfbar!) und zweitens ohne experimentelle Prüfung formallogisch „richtig“.

4. „Dieser Stuhl hält mich mit zwei Kindern auf dem Schoß aus!“ ist vorerst nur eine Behauptung im Sinne einer Hypothese und erst nach der Prüfung in der Praxis eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt durch die Prüfung selbst erfolgt.

Wir halten also weiterhin fest:

Der „Wahrheits“-Begriff ist insofern hilfreich und notwendig, als er aus philosophischer Sicht Anworten beim Erkennen der Welt einzuordnen hilft und auf die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt überhaupt eine Antwort zu finden ermöglicht.

Beispiel 3:

Wir „erkennen“ (sinnlich oder experimentell oder geistig („logisch“)) eine „Struktur“ in der Welt. Wir formulieren eine Hypothese über die „Ursache“ der strukturierten Erscheinung.

Jetzt gibt es zwei Wege zur Überprüfung der Hypothese:

a) Wir erforschen durch Messen in der Welt, ob der von uns hypothetisierte Zusammenhang statistisch haltbar ist.

b) Wir modellieren den der Struktur hypothetisch zugrunde gelgten Zusammenhang und prüfen, ob sich im Modell die in der Welt beobachtete Struktur ebenfalls entwickelt.

Schwierigkeiten:

Bei a) ergeben sich aus der Statistik lediglich Wahrscheinlichkeiten. Lösung: Statistik verbessern und außerdem Zusatz-Parameter abfragen, die die Sicherheit erhöhen.

Bei b) kann der Zufall einen Fehler im Zusammenhang und einen Fehler im inneren Modellaufbau sich gegenseitig aufheben lassen. Lösung: Zusätzliche Parameter im Modell verwenden, die innere Fehler sichtbar machen können oder solche Zustände des Modells ergeben, die eine gesicherte Übereinstimmung mit der Welt zeigen.

Durch die Gerichtetheit einer eventuellen Struktur-Entstehung gibt es keine umkehrbar eindeutigen („eineindeutigen“) Zusammenhänge, was auch beim Modellieren durch die numerische Integration von Differentialgeleichungen so abgebildet wird. Trotzdem darf man dann von Eindeutigkeit sprechen, wenn aus einem stochastischen Beginn unter definierten Randbedingungen reproduzierbar die immer die gleichen Strukturen enstehen. Das ist hinreichend für die „Wahrheit“ der Aussage über den dem Modell (und damit der Wirklichkeit) zugrunde gelegten Zusammenhang.

Wir halten also endlich fest:

Der „Wahrheits-Begriff“ kann auf Aussagen aus Modellen erweitert werden, sofern diese Modelle hinreichende Prüfmerkmale auf Übereinstimmung mit der objektiven Realität aufweisen. Erzeugte „Strukturen“ sind als Kriterien solcher Übereinstimmung bestens geeignet, sofern nachgewiesen werden kann, dass sie nicht „a priori“ im Modell vorhanden sein müssen. Das ist in dynamischen (zeitanhängig integrierenden) Modellen leicht zu zeigen.

FAZIT:

Modellierte „Strukturen“ können tatsächlich helfen, unsere Hypothesen über die Zusammenhänge in der objektiven Realität (als formale „Aussagen“ formuliert) zu prüfen und damit ihren „Wahrheits“-Wert festzulegen.

 

Nachbemerkung:

Im heutigen Alltag sind wir mit einer Flut von Aussagen konfrontiert, deren Übereinstimmung mit der Realität nicht mehr durch uns selbst zu prüfen ist. Ob wir ihnen einen „Wahrheits“-Gehalt zugestehem, hängt also davon ab, wie sehr wir der Quelle vertrauen. Dieses Vertrauen kann aus unterschiedlichen Motiven (Markt – darunter auch: Informations-Markt – und/oder Politik) missbraucht werden. Aber das ist keine philosophische Frage mehr.

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