3.5.1 Flucht der Krähen und Greife
Gern hätte ich mal ein gutes Foto von einem Greif gemacht, denn oft schon habe ich sie aus der Nähe gesehen und beobachtet.
„Guck richtig hin!“, sagt meine Frau und pfeift (!) auf gute Vögel-Fotos.
Es gelingt nicht. Aber ganz nebenbei lernt man viel über das Fluchtverhalten der Tiere.
Die meisten Experimente hab ich mit Krähen auf den Elbwiesen gemacht, die zweitmeisten mit Mäusebussarden im Schönfelder Hochland.
Die Krähen
Ich habe eine Struktur der Fluchtdistanzen gefunden, geordnet von nah nach fern:
- gleichmäßig tretender Radfahrer mit konstantem Geschwindigkeitsbetrag und konstanter Richtung (3 m)
- ungleichmäßig tretender Radfahrer (6 m)
- gleichmäßig gehender Fußgänger (12 m)
- Kurven fahrender Radfahrer (18 m)
- stehen bleibender Radfahrer (20 m)
- stehen bleibender Fußgänger (25 m)
- absteigender Radfahrer (25 m)
- Verdecken des Gesichts (30 m)
- Verdecken des Gesichts mit einer Kamera mit großem Objektiv (35 m)
- Rudern mit den Armen (50 m)
- Klatschen und Rudern (60 m)
- Schreien, Klatschen und Rudern (70 m)
Da ich nicht davon ausgehe, dass Fahrräder und Fotoapparate in den Genen von Krähen vorkommen, muss es abstraktere Strukturelemente oder Prozeduren geben, die ihr Verhalten bestimmen.
Meine Interpretation der Beobachtungen:
Höhere Tiere haben eine Vorstellung zukünftiger Ereignisse, um „vorbeugend“ reagieren zu können. Dann ist Flucht nicht immer Ausdruck von Schreck oder Angst (was beides auch zutreffen kann, aber hier nicht zur Sache gehört), sondern eine ruhig getroffene Entscheidung auf der Bais eines Schwellwertvergleichs zwischen einem festen Schwellwert-Katalog und einer momentanen Erwartung künftiger Ereignisse:
Ist abzusehen, dass der Radfahrer nach Unterschreitung der Fluchtdistanz eines kurvenfahrenden Radfahrers KEINE Kurven fährt, weil er das bisher auch nicht tat, dann wir die Fluchtdistanz „konstantfahrender Radfahrer“ aktiviert, und falls durch Extrapolation der Bahnkurve abzusehen ist, dass diese auch in Zukunft nicht unterschritten wird, kann schon vor dem Eintreten des kürzesten Abstands mit der Nahrungssuche im Status „Vorwarnung“ fortgefahren werden. Wird das Verhaltensregime im Raum zwischen den beiden in Frage kommenden Fluchtdistanz-Nachbarn geändert, tritt sofort der Fluchtmechanismus in Kraft.
Steuerungstechnisch gesprochen wird der qualifizierte Signaleingang der Wahrnehmung einer Hierarchie von Schwellwertschaltern erst zugeordnet und dann verglichen.
(Die Schwellwerte scheinen sich zu ändern, wenn man als nützlicher Idiot zum Zerfahren von Walnüssen gebraucht wird. Dann fliegt die Krähe direkt vor einen, wirft und wartet gleich daneben mit schräg gehaltenem Kopf – Träger eines nicht fokussierenden Gesichtsinns.)
Die Greife
Die Staffelung der Schwellwerte ist bei Greifen viel stärker als bei Krähen. Autos werden überhaupt nicht als Lebewesen und somit als völlig ungefährlich wahrgenommen (bis 2 m), sich gleichmäßig bewegende Radfahrer offenbar als Scheintote (bis 5 m seitlich und bis 3 m oberhalb), in den Freilauf wechselnde Radfahrer als unberechnbare Idioten (bis 25 m) und stehenbleibende mit Fotoapparat als Serienmörder (bis 75 m). Selbst mit dem Fotoapparat in der Hüfte und stetig tretend bin ich nicht auf 25 m herangekommen, weil das Zusatzauge des Objektivs alarmierend wirkt. Ich werde also auf dressierbare zielsuchende Minikameras wechseln müssen. Im Vorfrühling diesen Jahres erlebte ich das Verschlingen einer Maus in zwei Rucks aus 8 m Entfernung, als ich um eine Kurve des Elbradwegs kam. Erst dann flog er auf. Es war seine richtige Schreck-Entscheidung, aber trotzdem mit Vorrang des Schluckens (was nur im Stehen ging!) vor dem sofortigen Auffliegen!! Der Entscheidungsbaum war also noch komplizierter als nur ein geschachtelter Schwellwertvergleich. Man kann das fast schon Kompromissfähigkeit nennen!
Die größten Greifvogelerlebnisse waren beim Radeln in der Bautzner Teichlandschaft, wenn man aus dem Wald kommt und vorher von den Seeadlern nicht gehört und gesehen worden ist. Zweimal konnte ich das Auffliegen aus wenigen Metern beobachten und einmal eine Auf-der-Stelle-Wende in der Luft etwa 20 m vor mir in 8 m Höhe. Einmal flog einer auf dem Spreekanal beim Paddeln 10 m vor mir vom Ufer auf, und einmal war ich selbst Beobachtungsobjekt, als er hinter den polnischen Ostseedünen zwischen den Baumkronen im Wind stand und mich in den Preiselbeeren beobachtete und ich seinen Schatten erst für den eines Segelflugzeugs hielt…
Die aufwändigste Greifvogel-Foto-Jagd habe ich am Triebenberg im Schönfelder Hochland bei Dresden betrieben, weil dort ein Fast-Albino-Mäusebussard unterwegs war. Ich habe meine Rad-Trainings-Fahrten durch einen Fotoapparat beschwert und auf den Moment gewartet, dass ich den „Weißen vom Triebenberg“ mal richtig ablichten kann.
Das Ergebnis ist mager:
Erst nach solchen eigenen Versuchen kann man die guten Fotos von Greifen, die man so im Netz und in Büchern findet, richtig würdigen!
Fazit: Die Schwellwert-Einstellung der Fluchtdistanz-Hierarchie der Vögel (und anderer Tiergruppen) wird sicher instinktiv („strukturell“) voreingerichtet sein, wird mit Sicherheit aber von Lernprozessen sowohl „strukturell“ als auch wertmäßig überschrieben. Das würde man bei einem Menschen mit PC „Aktualisierung einer Datenbank bzgl. Struktur und Inhalt“ nennen.
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