3.5 Entscheidungs-Strukturen höherer Tiere
Wer denkfaul genug ist, hat sofort den Begriff „Instinkt“ zur Hand, wenn er eine Entscheidung eines Tieres wahrnimmt.
Auch über sich selbst sagt er gern, er hätte „instinktiv richtig“ entschieden, wie heute ein Flüchtling im Fernsehinterview auf die Frage, woher er den Mut nahm, seine Kameraden aus dem brennenden Haus zu holen.
Letzte Woche fuhr ich mit dem Rad einen Meter (tatsächlich etwas weniger als 100 cm!) an einem Stockentenpärchen vorbei, das Weibchen aus meiner Richtung „hinter“ seinem Kavalier. Und heute blieb das Kohlmeisenweibchen auf den Eiern sitzen, als ich das Häuschen kontrolliert habe. Die sibirischen Graugänse am Elbufer lassen mich im Winter näher heran als die einheimischen.
Dass Vögel lernfähig sind, habe ich in einem Fernseh-Experiment gesehen: Zwei von vier Amseljungen wurden die Flügel mit einer Papprolle fixiert, damit sie nicht fliegen üben konnten. Als die beiden Freien es nach reichlichem Üben beherrschten, wurden die Unfreien befreit und konnten es sofort.
Das Amselweibchen im Nest zwischen den Stiefmütterchen auf dem Balkon ließ sich von meiner Frau den Schwanz beim Blumengießen zur Seite schieben, vor mir nahm es schon beim Erscheinen in der Balkontür reißaus. Die Hälfte der Jungen übte Fliegen mit Bruchlandung auf dem Balkon, die andere Hälfte flog (ohne vorher in Pappröllchen gewesen zu sein) sofort ins Gebüsch gegenüber.
Meine zweieiigen Zwillingssöhne haben das auch so gemacht: Der eine hat Laufen geübt und sich viele Blessuren geholt, der andere ist so lange gekrabbelt (ziemlich schnell übrigens), bis sein Bruder laufen konnte, dann ist er in einem für unbeobachtet gehaltenen Moment aufgestanden und ohne zu stolpern gelaufen. (Dieses Erfolgserlebnis hat ihn so geprägt, dass er es mit Schwimmen und Radfahren auch so machen wollte, was allerdins schief ging.)
Ein Meisenkind hatte sich an meine tägliche Ansprache gewöhnt und seinen Jungfernflug auf mein Fensterbrett unternommen und mir beim Schreiben lange zugesehen.
Höhere Tierarten haben genetisch also eine Doppelstrategie: Lernen versus Instinkt: Sowohl die Art (durch Auswahl nach Instinkt-Variation und durch Lernfähigkeit) als auch das Individuum (nur durch Lernfähigkeit) können sich ändern.
Am schönsten sieht man das in den Tierfilmen beim spielerischen Raufen junger Raubtiere: Training des körperlichen und sozialen Verstehens der Umwelt (im Sinne des Erwerbs von Reaktions-MUSTERN auf Gegebenheiten) mit Sparrings-Partnern.
(Vorgriff: Antiautoritäre Erziehung und Helikopter-Betreuung von Einzelkindern verzichten auf einen Teil der Chancen zur Musterbildung, so dass diese später unter erschwerten Bedingungen nachgeholt werden müssen, falls keine Robinson-Insel im Schlaraffenland mehr frei ist.)
Das soll genauer betrachtet werden.
- Flucht der Krähen und Greife
- Dilemma der Blässhühner
- Pflicht (Standard) und Kür (Experiment) der Mäuse
- „Aufgabe“ (Schwellwert Zeit oder Energie?) im Todeskampf
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