Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.3.3.1 Harmonie und Psyche

Frage: Kann man sein Harmoniebedürfnis mit Musik stillen?

Antwort: JA!!

Der Begriff der Harmonie ist in der Musik klarer gefasst als in der Psychologie. Musikalische Harmonie ist auch ohne theoretisches Vorwissen psychisch als ganz allgemeine Harmonie im Sinne von wortloser (und für den Laien nicht in Worte zu fassender) „Stimmigkeit“ ERLEBBAR.

Musikalische Harmonielehre kennt viele Ansätze. Interessant ist zudem, dass viele Quereinsteiger (auch meine Person gehört dazu!) die einfach rationalen Zusammenhänge der Frequenzen (oder Schwingzahlen) oder Schwingzeiten eines Dreiklangs den Bauplänen der Instrumente zuordnen können und dann mit anderen Wissensgebieten (Kristallographie, Architektur, Getriebelehre, Astronomie u.a.m.) vergleichen und quasiphilosophische Weltmodelle daraus zu bauen inspiriert sind.

Hier soll es aber nicht um den rationalen (im doppelten Sinne) Hintergrund der reinen Harmonielehre gehen, sondern um das Wechselspiel mit der Psyche, das durch den Zeitablauf der Melodie, also durch das Strecken des Dreiklang-Akkords (des Zusammenklangs also) zu einer Melodie (einer zeitlichen Tonfolge also) überhaupt erst möglich wird.

Zuerst müssen wir konstatieren, dass zwischen den Dreiklang-Tönen „Lücken“ existieren, die durch die „Tonleiter“ ausgefüllt werden.

Schon die Beschreibung einer einfachen Dur-Tonleiter ermöglicht verschiedene Sichtweisen (der Einfachheit halber mal alles in C-Dur):

a) Dreiklang-Töne als „Haupt-Töne“ und die zwischen den Dreiklang-Tönen liegenden Töne als „Zwischen-Töne“ (in Klammern)

C (D) E (F) G (A) (H) C

Im Fall a)  ist das Ende der aufsteigenden Tonleiter durch 2 (statt sonst 1) Zwischentöne angekündigt (im Vierertakt beliebt). Kommt solch eine Tonleiter innerhalb einer Melodie vor, sind die Haupttöne normalerweise durch den Rhythmus betont.

b) Ganztonschritte als „normale“ Schritte und  Halbtonschritte als „Auflösung“ eines „Leittons“ zum „Grundton“

C D E -> F; G A H->C

Im Fall b) gibt es zwei ähnliche Abschnitte der Tonleiter, wobei harmonisch zweimal eine Auflösung von der Dominante zur Tonika erfolgt (C->F und G->C; günstig im Dreiertakt!), wobei nach der ersten Hälfte eine Rückung um einen Ganzton erfolgt, man sozusagen in die Duodominante springt. Die „übliche“ einfache Kadenz Tonika-Subdominante-Dominante-Tonika wird dann also in zwei selbständige Auflösungen Dominante-Tonika umgedeutet!

ZWEI ERKENNTNISSE:

Erstens: Der „Zauber der Musik“ liegt in der ständigen harmonischen Umdeutbarkeit der temporären Bezüge.

Zweitens: Durch die „temporären“ Bezüge verlieren die scheinbar „permanenten/festen“ Zuordnungen wie „Haupt-“ oder „Zwischen“-Töne ihre Bedeutung.

(Weiter unten werden wir verstehen, dass der Verlust des Bezuges zur „Haupt-Tonart“, also der Verlust des permanenten Bezuges auf Kosten des temporären, den psychischen Verlust der „Möglichkeit der Auflösung“ mit sich bringt.)

Vorschlag für ein erstes einfaches Experiment:

Man singt Kleinkindern eine Tonleiter vor und fordert sie auf, diese mit- und dann nachzusingen und dabei im Kreise zu laufen: Der natürliche Schritt ist ein Wechsel von links und rechts und man bekommt bei den Tönen 7 und 8 Probleme mit der Zuordnung zum Schritt, weil die unbewusste Betonung wechseln muss.

Vorschlag für ein erstes fortgeschrittenes Experiment:

Man begleitet eine einfach Dur-Tonleiter auf völlig unterschiedliche Weise mit Akkord-Teilen verschiedener Kadenzen. Wiederholt man jede Variante unmittelbar hintereinander mehrfach und wechselt dann die Variante, wird das als „falsch“ empfunden, weil sich eine bestimmte begleitende Harmonie-Variante als die „richtige“ eingeprägt hat. Am eindringlichsten gelingt dieses Experiment, wenn man sich eine fremde Melodie vorsingen lässt und ihre Begleitung improvisiert. Dabei kann es bei anspruchsvolleren Stücken leicht passieren, dass man „falsch“ begleitet, was der Vorsinger überhaupt nicht verstehen will, denn für ihn ist der Zauber der Mehrdeutigkeit längst durch Gewohnheit ersetzt worden… (Ist mir in der Beatles-Zeit mehrfach so ergangen, wenn ich die neuesten Titel noch nicht gehört und verinnerlicht hatte.)

Das eleganteste Psycho-Spiel der harmonischen Umdeutung ist der Tausch auf dem vermuteten Leitton:

C (Prime) D (Sekunde) E (eigentlich Leitton Terz zu F als Prime der Subdominante, jetzt aber -> E als Prime der „Terz-Verwandtschaft“) D (Septime des E-Sept-Akkordes als Leitton im Dominant-Septakkord zu) Cis (Terz auf A)

Dieser Vorgang wird am besten dadurch begleitet und in seiner gewollten Deutung somit untermauert, dass man auf dem E Zeit hat, die Umdeutung vorzunehmen (durch Arpeggien oder Akkord-Folgen). Das Cis wäre dann wie eine Art harmonischen Zwischenschlusses.

Vorschlag für ein zweites einfaches Experiment:

Man hört Kleinkindern im Sandkasten oder mit Puppen oder Plüschtieren zu, wenn sie beim Spielen vor sich hinsingen. Sie lieben die schwebende Terz und umspielen sie immer wieder verträumt. Nur wenn es Ernst wird, steigen sie fordernd zur Quinte auf oder beenden etwas strikt auf der Prime oder sleten auf der Oktave. Wenn sie sich sicher im Tonbilden beim Singen sind, erkennt man auch schon, dass sie die Auflösung der Leitton-Terz zur Quarte schon nur als Zwischenlösung erkennen, indem die Quarte dann weiter zur Qunte führen muss, die ihrerseits ihr kurzes Dasein als Dominant-Prime verliert und wieder zur „echten“ Quinte wird, indem eine neue „Strophe“ wieder mit der Prime oder Terz beginnt. (Manche Kleinkinder, die wissen, dass sie auf der Tastatur des klaviers oder Keyboards vorsichrtig spielen dürfen, erarbeiten sich das sogar von ganz allein im Zwei-Finger-System beider Zeigefinger allein mit den weißen Tasten.)

ERKENNTNIS:

Der ständig mitlaufende Erwartungsbaum des Musik-Hörers oder des auch völlig ungeübten Musik-Erzeugers vergleicht „just in time“ den Fortgang des Gehörten/Erzeugten mit dem Erwarteten. Eine Abweichung kann zweierlei bewirken:

– freudige Überraschung, Wiedererkennen einer Varianten-Struktur-Möglichkeit, Bestätigung des Selbst, Neugier auf weitere Abweichungen, Schärfung der Aufmerksamkeit

– verstimmte Ablehnung, Unverständnis, Verweigerung der Fortsetzung

Es ist also durchaus spannend, die Musik mit anderen schöpferischen Struktur-Spielen zu vergleichen, und das sowohl formal, was die Strukturen selbst angeht, als auch psychologisch, was sie nämlich auch ohne tiefgreifende Analyse des Hörers bewirken können.

Bleiben wir also der Einfachheit halber bei der Dur-Tonleiter auf C.

Jeder erklingende Ton hat sofort mehrere allgemeine zeitliche Bezüge, und das auch auf mehreren konkreten Ebenen (harmonisch und rhythmisch und kontrapunktisch):

Hier gilt, wie so oft in der Kunst, dass meist „weniger mehr ist“, weil durch eine überladene Begleitung oder einen maschinenartigen Rhythmus der Erwartungsbaum der möglichen Fortsetzungen verarmt.

Seien wir also spartanisch und nehmen wir ein Solo.

Wir beginnen mit dem Viertel-Auftakt eines 4/4-Taktes auf der Quinte (was beides erst nachträglich erhellen kann!) und lassen zum Volltakt die Prime folgen. Schon die darauffolgend gewählte Sekunde birgt viele Möglichkeiten in sich:

Sie kann sich nachträglich zum Beispiel als

erweisen, was man aber tatsächlich erst nachträglich erkennen/erspüren kann.

Sie kann sich rhythmisch (lang angehalten oder mehrfach wiederholt) als „Orgelpunkt“ erweisen, um den sich weitere Umbewertungen gruppieren.

Sie kann sich schließlich, als Wiederholung erkannt, zur Variation der zuerst gewählten Fortsetzung erweisen.

Alles wird zeitigstens durch den nächsten Ton wenigstens teilweise aufgeklärt werden können.

Schon hier erkennen wir also, welch ungeheure Vielfalt möglich ist, welch ungeheure Spanne an Möglichkeiten unser Erwartungsbaum enthalten kann (je nach bewusster Vorbildung, unbewusster Prägung oder erlernter Gewohnheit), wenn jetzt der vierte Ton (der dritte im 4/4-Takt) folgt. Dieser trägt eine Zwischenbetonung und wird daher höher in die Bewertung eingehen und erlaubt schon eine minimal stärkere Eingrenzung des Erwartungsbaumes und damit einhergehend ein stärkeres Frustrationspotential im Konfliktfall mit der Erwartung.

Unter Umständen wird erst im nächsten Takt klar, was gemeint ist.

ERKENNTNIS:

Es hängt oft am seidnen Faden, ob wir es spannend oder unverständlich finden, was uns der Komponist da vorgesetzt hat. Nur dann, wenn wir es spannend finden, können wir dem Spiel durch seine folgenden Auflösungen etwas abgewinnen. Haben wir den seidnen Faden verloren, sind es nur noch beziehungslose Töne, also Krach.

Die Alten haben dieses Seidener-Faden-Dilemma elegant gelöst, indem sie (man hatt damals noch „Zeit“!) einfach angefangen haben und dann das Thema „entwickelt“ haben („Durchführung“ im Sonaten-Hauotsatz).

Nehmen wir ein einfaches Beispiel für die Mischung von Spannung und Klarheit und ihre Entwicklung:

c‘ c‘ e‘ e‘ g‘ g‘ e‘ – f‘ f‘ ???

Die beiden einfachsten Varianten der Fortführung in unserem mitlaufenden Erwartungs-Verzweigungsbaum sind die Deutung des f‘ als Prime der Subdominante oder als Septime der Dominante:

c‘ c‘ e‘ e‘ g‘ g‘ e‘ – f‘ f‘ a‘ a‘ c“ c“ h‘ –

c‘ c‘ e‘ e‘ g‘ g‘ e‘ – f‘ f‘ d‘ d‘  –  ha: hier erkennen wir den zweiten Satz der Paukenschlagsinfonie!

Aber: Wer diese NICHT erkennt, wird in ihre Gedankenwelt schrittweise eingeführt:

(A) c‘ c‘ e‘ e‘ g‘ g‘ e‘ – (B) f‘ f‘ d‘ d‘ h  h  g – (Tonika, Dominantsept)

(A) c‘ c‘ e‘ e‘ g‘ g‘ e‘ – (C) c“ c“ fis‘ fis‘ g‘ –  g“ – (Tonika, Doudominantsept, Dominante)

In der Folge wird das Thema immer weiter variiert, bis man es auf dem Nachhauseweg auch nach dem ersten Hören der Sinfonie schon sicher trällern kann.

Der didaktische Spezialtrick klappt auch hier: Nach der ersten Verwunderung stellt sich völliges Verständnis ein, so dass man zu glauben bereit ist, man hätte es schon immer gewusst oder gekannt. Aber die erste Verwunderung ist vonnöten, um die Aufmerksamkeit zu steigern und alles Störende bei der Aufnahme des Neuen auszublenden.

Es ist wie in einem Liebes-Roman/Film: Ohne Umwege und Missverständnisse ist die Harmonie des endlichen Sichkriegens nur halb so schön.

Das heißt aber auch: Zu viele Nebensächlichkeiten oder Umwege wirken künstlich und nicht zum Thema gehörend und wirken kontraproduktiv, steigern die Aufmerksamkeit nicht, sondern lassen sie erlahmen.

Das kann in der Musik sehr schnell gehen, denn wir haben ja die Melodie mit ihren Selbstbezügen, den harmonischen und den figürlichen (Kontrapunkt) Zusammenklang mit anderen Stimmen, die Entwicklung der Harmonie (Modulation), den Rhythmus, die Lautstärke, das Tempo, die Instrumentierung usw. usf.

Wenn also die Musik Genuss für die Psyche sein soll, muss sie der musikalischen Erfahrung angepasst sein. Da diese Erfahrung unterschiedlich ausgeprägt ist, können unterschiedliche Menschen ein und dieselbe Musik völlig unterschiedlich aufnehmen.

Am Ende gilt auch hier: Man muss selber wissen, was man in welcher Verfassung am liebsten hören will. Zum Glück ist das heute sehr einfach möglich.

Doch am schönsten ist hier wohl ein „Selbstgespräch“: Die freie Improvisation ohne Zuhörer. Es ist eine ganz subtile Form der Meditation, besser noch als Ausdauersport an frischer Luft – oder sagen wir mal: am allerbesten abwechselnd.

(Dass man schon im Kindesalter unterschiedlich bewusst an musikalische Formen herangeführt werden kann, zeigen die Kinderlieder wie „Hänschen klein“: siehe dort!)

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