Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.1.1 Strukturen im Unbewussten

Die Klapper über dem Kinderwagen begünstigt die unbewusste Herausbildung einer Korrelation von Gesichtssinn, Tastsinn  und Hörsinn. Ganz nebenbei entsteht ein Gefühl für den Raum, für die Bewegung in diesem Raum (man sieht ja auch seine eignen Hände) und damit für die damit zusammenhängende Zeit. (Die Zeit vom einen Sattsein bis zum nächsten scheint damit aber nichts zu tun zu haben!) Die Klapper am Gummiseil macht eine gedämpfte Schwingung, der Ton eines Glöckchens vergeht, vieles andere vergeht auch. Wieder Zeit!

Der Prozess des Lernens findet also schon in einer Zeit statt, in der es noch keine Begriffe für die Kommunikation (Sprache) über das Gelernte gibt.

Und sogar das Erlernen der Muttersprache findet ohne Metakommunikation über „Sprache als solche“ (Grammatik) statt, sondern ist eine lernende Anhäufung von Assoziationen zwischen Lautfolgen und Dingen und später Lautfolgen und Tätigkeiten. Das können auch Tiere, wie jeder Dresseur weiß. Das eigene Sprechen kommt später als das verstehende Hören und ist ein langwieriger Anpassungsprozess.

Wann die ersten Abstrahierungen (Verallgemeinerungen) stattfinden, ist oft schwer zu erkennen. Wenn aber ein Kleinkind einen Schreck bekommt, wenn die Schnur des Staubsaugers sich von selbst einrollt oder der Papa das erste ferngesteuerte Spielzeugauto vorführt, dann deshalb, weil es schon unbewusste Abstraktionen von Lebewesen (kann sich bewegen) und „totem Ding“ (muss bewegt werden) gebildet hat. Dieser Schreck ist also nicht „dumm“, sondern ein Zeichen von hervorragend funktionierender Intelligenz!

Die erste Fremdsprache fällt uns deshalb so schwer, weil wir nicht gelernt haben, die Grammatik als Werkzeug zu nutzen, und weil wir inzwischen zu ungeduldig sind, diese wie unsere Muttersprache durch Trial und Error zu erlernen, denn den Error umgehen wir durch Rückfall in die unbewusst benutzte Muttersprache. (Die zweite Fremdsprache erlernt man viel leichter, wenn man bei der ersten schon bewusst gearbeitet hat. Und die dritte…)

Die sehr früh geübten Assoziations- und Abstraktionsleistungen unseres Gehirns erlauben es uns, aus wenigen Daten ein wahrscheinlich Ganzes zu erzeugen. Das ist sehr gut, manchmal aber auch hinderlich, denn es ermöglicht gezielte Provokationen von Fehlschlüssen, wie die „optischen Täuschungen“ zum Beispiel über das dreidimensionale Interpretieren zweidimensionaler Eindrücke zeigen (die Überlagerung zweier zweidimensionaler Bilder unserer Augen ist etwas anderes als die Interpretation eines einzigen zweidimensionalen Druckes – deshalb auf diesen Seiten auch an vielen stellen 3D-Stereo-Darstellungen!).

Diese frühen Bildungen von Strukturen und Strultur-Elementen gehen sogar noch viel weiter, als man allgemein denkt.

Beispiele:

Bewegungsabläufe

„Kannst du jetzt mal vom Stuhl aufstehen und um den Tisch gehen?“

„Klar doch!“

„Gut, mach es jetzt mal nicht, sondern erkläre mir bitte, wie du es machen würdest!“

„Na, ich würde aufstehen, um den Tisch gehen und mich wieder setzen.“

„Gut, wie machst du das Aufstehen?“

„Ich schiebe den Stuhl zurück und strecke die Beine!“

„Gut, und wie streckst du die Beine?“

„Ich spanne die richtigen Muskeln an!“

„Wie machst du das?“

„Häh?“

Wir brechen hier ab. Man kann die Fragerei weiter treiben und sein Gegenüber zur Verzweiflung bringen, vor allem mit der Frage, wie er es macht, dass er will, dass er in genau dieser Zehntelsekunde genau den rechten Quadriceps anspannt.

Dahinter liegen komplexe Befehls-Strukturen, die sowohl durch die Evolution „vorgefertigt“ existieren als auch korrigierend oder bestätigend überschrieben (erlernt) worden sind, und die durch die geistige Vorstellung des Vorgangs gestartet (getriggert) werden können.

(Wir haben zweieiige Zwillinge, die uns die Experimente mit Amseljungen nachgestellt haben, deren Flügel im Alter des Fliegenübens mit Pappröllchen fixiert wurden, und die im Alter des Fliegenkönnens fliegen konnten, ohne geübt zu haben: Einer hat Laufen geübt und das dabei unumgängliche Fallen und Aufstehen gezeigt, so dass der andere auf das Üben verzichtet hat – mit Erfolg (er war der schnellere Krabbler). Er stand eines Tages auf und lief ohne zu fallen! Das hat die Evolution so eingerichtet, damit eine Art sich über das lernende Individuum an neue Bedingungen anpassen könnte, wenn es erforderlich wäre. Je „höher“ die Art, desto höher der individuelle Lernprozess und desto geringer die (i.a. teilweise mutierte) Nachkommenzahl und umgekehrt.)

Betrachtet man die Informationsverarbeitung der Tiere aus Sicht eines Regelungstechnikers, so ist man erstaunt, was durch Training alles erreicht werden kann:

Ein Vogel landet auf einem Zweig. Beim Anflug stellt er fast ohne zu korrigieren die Stellung seiner Flügel- und Schwanzfedern so ein, dass er weder vor noch hinter dem Zweig landet, und sieht dabei auch das Schwingen des elastischen Zweiges so gut voraus, dass er sitzend kaum nachkorrigieren muss. Es fällt einem normalen Menschen sehr schwer, die dazugehörigen Integralgleichungen zu lösen. Und doch tut er es ständig: Beobachten Sie sich einmal selbst, wenn Sie auf eine Ampelkreuzung zufahren und Ihre Richtung plötzlich Rot erhält: Sie treten auf die Bremse, ohne die Bremsstellung nachkorrigieren zu müssen. Ihr Fuß „weiß“, wie er auf das Signal des Auges zu reagieren hat, und Sie beiben mit 1 % Fehler an der Aufstellinie stehen. Sie haben aus den Augenblicksdaten „Abstand“ und „Geschwindigkeit“ die richtige konstante „Bremsverzögerung“ eingestellt, wohl wissend, zur Not als Regler korrigierend eingreifen zu können. Sie sind also nicht dümmer als ein kleines Vögelchen!

Die komplexeste Struktur, die der Mensch zu bewerkstelligen hat, ist die Selbstreflexion: Er ist Subjekt und Objekt in einem, was, wie Spiegelexperimente zeigen, nur die höchsten Tiere abstrahieren können.

Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht nur zur Verstellung oder gar Lüge, sondern auch zum Selbstbetrug in der Lage ist. Er hat die „Versuchung“ in sich und das Wissen, ihr begegnen zu können (notwendige und hinreichende Bedingung für das Entstehen der Religionen und moralischen Regeln).

Und nicht zuletzt die Geschichte als Gruppenwesen macht den Menschen a proiri strukturell bezogen auf sich und andere. Die Erforscher der Gruppendynamik wissen darüber ein Lied zu singen wie auch jeder einzelne von uns, wenn man sich an die Strukturen der Gruppen erinnert, zu denen man gehört hat. Man erinnert sich, dass es Menschen gibt, die ziemlich auf eine einzige Stellung in der Gruppe festgelegt sind, und dass es solche gibt, die lieber eine neue Rolle einnehmen statt ertragen zu müssen, dass die Gruppe nicht „komplett“ ist. Das geht sogar gleichzeitig in ganz unterschiedlichen Positionen, wie ich aus meiner eigenen Geschichte weiß: Konzertmeister als Cellist im Jugend-Sinfonieorchester und geduldetes einfaches Mitglied im Streichquartett, untergeordnetes Mitglied einer Volleyballmannschaft und einer Leichtathletik-Gruppe, Alphatier beim Skilanglauf und untergeodnetes Mitglied im Klassenverband, aber aufmüpfiger Jugendfunktionär auf höherer Ebene und einsamer Einzelkämpfer bei der Mathe-Olympiade. Vorher war ich schon Klassenkasper, superflinker Ausreißer-Oberfeigling, Angeber und erfolgreicher „Understateman“, indem ich in der ersten Klasse beim Vorlesen langsam gestottert habe wie die anderen, statt flüssig vorzulesen wie bei meinen kleinen Geschwistern, was ich schon vor der Schuleinführung konnte.

Die hier benutzten „Regelkreise“ brauchen einen Sollwert. Dieser entsteht aus zwei Komponenten: Dem gewünschten Selbstbild und dem gewünschten Fremdbild. Das klingt  schon etwas kompliziert, wird aber noch verschärft durch die Wahrnehmung (die Messung) des Istwertes beider Bilder, die ihrerseits wieder durch diverse „Brillen“ verfälscht sein kann. Und dann gibt es Situationen, in denen uns alle Bilder scheißegal sind und wir Fakten schaffen, mit denen wir uns anschließend in Bezug auf die wieder „aufgetauchten“ Bilder auseinanderzusetzen haben. Wir haben es also mit einer „Struktur“ mehrerer Bilder und einer „Struktur“ mehrerer Strategien zu ihrer Veränderung in Richtung Deckungsgleichheit zu tun. Diese „Strukturen“ haben wir uns nicht ausgedacht, sondern sie von der Evolution übernommen. Und es ist nicht sicher, ob unser Wissen darüber Probleme löst oder neue Probleme durch neue Verstellungs-Künste schafft.

Die Doppelrolle als Produzent und Konsument in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung macht den Kohl fett. Ich will billig einkaufen können, aber bald eine Lohnerhöhung bekommen. Ich möchte kündigen dürfen und gegen die Kündigung des Arbeitsgebers protestieren dürfen. Der offizielle politische Liberalismus bietet dieser Haltung eine positive Rückkopplung an und verstärkt nebenbei das „Teile und herrsche“. Denkt jemand gesamtgesellschaftlich, ohne Bundeskanzlerin zu sein, wird ihm das als Verrat an einer (der „eigenen“) Gruppe ausgelegt. Von Kindesbeinen an haben wir gelernt, dass der schlimmste Feind des Spiels nicht der Betrüger ist (er nimmt das Spiel-Ziel nämlich ernst), sondern der Spielverderber (der das Spiel-Ziel verhindert) .

Die Gruppenzugehörigkeit als Garant einer emotionalen Sicherheit erlebt man am besten beim Profi-Fussball, wo man der gleichen Vereins-Mannschaft im Rückspiel wieder zujubeln würde, obwohl sie mit dem Gegner des Hinspiels zwischendurch sämtliche Spieler durch Kauf und Verkauf getauscht hat. Man kennt die Riten des Vereins und der Stadionbesucher und ist „Zu Hause“, und das sogar als Schlachtenbummler im fremden Stadion. (Man merkt, dass das einige Politiker begriffen haben, wenn sie sich auf Wahlparties benehmen wie im Fußballstadion.)

Das sind unsere Gene, und das mit gutem Grund: Die Spezies Mensch war so erfolgreich während der Menschwerdung (und das durch Auswahl unter verschiedenen gleichzeitig sich entwicklenden und sich ins Gehege kommenden Vorstufen des heutigen Menschen), weil sie

Wer als Gruppe dabei gesammelte Erfahrung am besten weitergeben konnte, gelangte über die persönliche Erfahrung einer einzigen Lebensspanne am weitesten hinaus.

Fazit:

Das Dilemma zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem nach Geborgenheit ist genetisch bedingt und eine Folge der positiven Auslese unserer emotionalen Wandelbarkeit im Rollenspiel der Gruppe. Auch wenn dieses Dilemma in der Demokratie wunderliche Erscheinungsformen zeigt (Nichtwählen als Protest gegen demokratisch gewählte Instanzen, Demonstrationen gegen Wahlsieger, Wunsch nach dem „guten König“ oder Wahl eines Verkünders einfacher Lösungen), so ist es naturgegeben durch die Menschwerdung. Kluge Gemeinschaftslenker haben Gebote und Verbote formuliert und „Könige“ außerhalb unserer direkten Wahrnehmung erfunden, um dieses Dilemma abzuschwächen oder in gesellschaftlich unschädliche oder sogar nützliche Kanäle zu lenken, indem sie dem Einzelnen die Chance eröffnen, sich trotz aller Selbstzweifel als „normal“ oder sogar „gewollt“ fühlen zu können. Das dürfte eine der größten Leistungen der Kultur sein, obwohl gerade die Religionen von machtbesessenen Politikern zum Erzeugen von Hass missbraucht werden.

Die große unbewusste Angst vor naturwissenschaftlichen oder technischen Fächern rührt sicher auch daher, dass man befürchtet, zu viel über die eigene Unvollkommenheit zur Kenntnis nehmen zu müssen. Der immer schneller immer größer werdende Abstand zwischen eigenem Verständnis und eigener Kenntnis einerseits und technischem Stand von Gebrauchsgütern andereseits befeuert diese Unsicherheit noch und ist eine positive Rückkopplung für die Flucht ins „Postfaktische“: Dort fühlt man sich sicherer, weil in vermeintlich „bekannten“ Strukturen aufgehoben.

Auch die Beschäftigung mit der Kunst zeigt den Wunsch nach Sicherheit und nach Freiheit: Die Popkultur bedient den Wunsch nach dem sicher zu Verstehenden, die Avantgarde will selber unverstanden sein und ihre Konsumenten fühlen sich besonders „frei“, weil anders als die Masse, die einem Zwang zu unterliegen scheint. „Ästhetik“ wird verkürzt als altmodische „Schönheit“ (Geborgenheit in ihren bewährten Gesetzen) empfunden und diese als Gegensatz zum „Chaos“ (Unsicherheit erzeugende neue Freiheit vom Gesetz bei der Avantgarde).

Die Ästhetik des Geistes widerspricht dem natürlich: Die Kunst verliert den Aspekt des Spiels mit den Gesetzen, wenn sie die Zahl der befolgten Gesetze reduziert: Ein Gedanke, der in einem Gedicht mit Rhythmus und Reim ausgedrückt wird, berührt weit mehr Ebenen des Geistes als der gleiche Gedanke ohne Rhythmus und Reim, auch wenn die Form sich „avantgardistisch“ gibt.

Dazu werden wir bei der Ästhetik in der Musik noch viel Gelegenheit haben, neue Widersprüche zu erkennen!

(Letzte Änderung: 22.03.2018)

 

 

 

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Kommentare

Anne H. am Mittwoch, 24. Oktober 2018:

Das Dilemma zwischen dem Wunsch nach Freiheit ( Freiheit von und Freiheit für ? ) und dem nach Geborgenheit würde ich noch ergänzen durch die Fromm’schen Grundbedürfnisse des Menschen einschließlich ihrer regressiven und progressiven Befriedigungsmöglichkeiten. Diese beschreiben umfassender psychische Strukturen.

Joachim Adolphi am Mittwoch, 24. Oktober 2018:

Danke, Anne, für diese Anregung!
Im Sinne dieser Abhandlung könnten die Frommschen Gedanken, die „Ordnung“ (aber noch nicht „Struktur“ im Sinne dieser Abhandlung) in die menschlichen Grundbedürfnisse bringen, dazu verwendet werden, wie wiederkehrende „Muster“ (also doch „Struktur“!) das menschliche Zusammenleben in der Gruppe (Gruppendynamik) und im Paar (da könnte man noch Jürg Willi zitieren) bestimmen können.
Mir geht es zwar nicht um Vollständigkeit, schon gar nicht um die der Literatur-Zitate, sondern um den Spaß am Ordnen eigener Erkenntnisse, aber vielleicht kommt noch ein Abschnitt dazu? Ich denke darüber nach!

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