4.5 Kultur und Demokratie
Hier könnte als Überschrift auch stehen:
4.5 Ästhetik und Politik
Da Ästhetik als ein kleiner Teil der Kultur eben immer gemeinsam mit der Kultur gefährdet ist, muss man im Zusammenhang mit Politik und insbesondere mit Demokratie weiter ausholen. Für diesen Abschnitt muss man deshalb von Kultur (statt von Ästhetik) ausgehen und gleichzeitig „Kultur“ eingeschränkt definieren, um mit ihr als Begriff dynamisch operieren zu können. Das kann man positiv und negativ gestalten, am einfachsten gelingt es in negativer Form (Adolphi):
„Kultur zeigt sich im zuverlässigen Verzicht eines Gruppenwesens auf triebgesteuerte Reaktionen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern.“ (vgl. Liste der einzelnen „Verbote“ der Religionen und Ethiken)
Lorenz und andere haben das im Tierreich hinreichend untersucht. (Ich verweise hier einfach ohne Zitate auf die einschlägige Literatur.)
Man kann es auch positiv ausdrücken (eine der Varianten des „Kategorischen Imperativs“ von Immanuel Kant):
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“(vgl. Liste der einzelnen „Gebote“ der Religionen und Ethiken)
Da Verbote viel einfacher durchzusetzen sind als dass es gelingt, zum Handeln nach Geboten erfolgreich aufzufordern, sind sie viel häufiger anzutreffen. Da Verbote aber das spontane (triebgesteuerte) Handeln einschränken, sind sie dem einfachen Verstande ein Hindernis für das Empfinden von „Freiheit“ im Sinne von Verbotsfreiheit. Als Gegenentwurf wird falsch verstandener „Liberalismus“ gefeiert, der von den kulturellen Verboten im Rahmen des gesetzlich Erlaubten entlasten soll.
Dieses juristisch saubere Vorgehen ist aber im Grunde eine kulturelle Katastrophe, weil es am Wesen der Demokratie rüttelt, und weil diese ihrerseits nur ihren Zweck erfüllen und also funktionieren kann, wenn sie sich auf die Gültigkeit von Geboten verlassen kann, hier: Das Gebot der Achtung Andersdenkender und somit die friedliche und einsichtige Anerkennung der entstandenen Mehrheit. Stattdessen beobachtet man angemeldete hasserfüllte Demonstrationszüge, die von der Exekutive gemäß deomokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze geschützt werden müssen. Statt mit Ruhe und Gelassenheit zur Kenntnis zu nehmen, dass es nach den Gesetzen der psychologischen Gruppendynamik IMMER Opponenten gegen die Regeln der Gruppe gibt, wird nach den Regeln des Medien- und Informationsmarktes über eine vermeintliche „Sensations“-Eigenschaft der Erscheinung eine positive Rückkopplung geschaffen, die die Wahrnehmung verfälscht und somit die Grundlagen der Kultur unterhöhlt.
Demokratie ist ein einvernehmliches Spiel, bei welchem es Sieger und Verlierer gibt. In dem Moment, wo die Spielebene verlassen wird, indem jemand (der „Spielverderber“) hasserfüllten Ernst macht und damit den Mehrheitsbeschluss grundsätzlich diskreditiert, kann man im Falle eines Taubenzüchtervereins einfach austreten. Was aber macht man im Falle einer gesamtstaatlichen Gesellschaft? Kann man das Gebot der Freiheit der Andersdenkenden durchsetzen? Nein. Gebote kann man grundsätzlich nicht durchsetzen. Man kann lediglich Verbote jurustisch formulieren, wie zum Beispiel das der Volksverhetzung.
Ein einfacher Test genügt, um den Stand unserer Kultur zu prüfen: Wie reagiert ein Rasenlatscher, wenn man ihn auf sein Rasenlatschen hinweist: Mit Dank für den Hinweis auf den Kulturbruch und mit sofortiger Korrektur seines Handelns oder mit süffisantem Hinweis darauf, dass mich das nichts anginge?
Zurück zur Demokratie: Das Verderben des Spiels beginnt schon vor der Abstimmung, indem der Gegner direkt oder indirekt („für unser Land!“, als ob der Gegner gegen unser Land wäre) diskreditiert wird. Damit wird direkt auch der Wähler diskreditiert und somit emotionalisiert und somit entkultiviert. Es wird (bewusst oder unbewusst) die Todsünde des Jähzorns (Wut, Hass, Rachsucht) zu Hilfe gerufen oder zumindest in Kauf genommen und in jedem Falle also toleriert und damit enttabuisiert. Einer Voraussetzung zum Gelingen faschistischer Strömungen ist somit der Weg bereitet, eventuell sogar beim Thema „Kampf gegen Rechts!“.
Es gibt leider kein Gesetz, mit welchem man solche Wahlkämpfer hinter Gitter bringen kann. Deren Krokodilstränen über „Wahlmüdigkeit“ oder „Demokratieverlust“ angesichts der Stimmen für die „falsche“ Partei sind das Gegenteil von Kultur.
Jeder Politiker, der gegen einen Gegner (statt werbend für seine eigenen positiven inhaltlichen Ziele) auftritt, verstößt gegen die kulturellen Grundlagen der Demokratie und hilft deshalb bei ihrer Abschaffung und ist somit als staatsgefährdend aus dem Verkehr zu ziehen. Leider nur ein Märchen…
Nehmen wir als Beispiel den Wahlkampf in Deutschland im Herbst 2017. Was war vorher passiert? Die Welt hatte vorgemacht, dass Populisten Chancen haben. Da erschien für die SPD ein Mann aus Brüssel und wurde als Erlöser begrüßt und mit 100% gewählt. Das war der Offenbarungseid der SPD: Wir wollen die Menschen vor der Ungerechtigkeit in Deutschland retten, das geht aber nicht, da man selber in der Regierung ist, die dies zu verantworten hat, also kann man mit dem neuen Mann nur in die Opposition gehen. So weit so logisch. Dann will aber dieser Mann in die Regierung, und zwar als Außenminister, weil er ja aus Brüssel Erfahrung hat. Nun fühlt sich das SPD-Volk verarscht und rebelliert gegen seine eigene Einfältigkeit. Sitzt der Herr jetzt wegen Volksverdummung hinter Gittern? Und wenn das so wäre, würden dann alle, die ihn gewählt hatten, aus Scham aus der SPD austreten und ihren Platz auf dem Parteitag frei machen?
Das ist der kulturelle/moralische Zustand der formal noch existierenden deutschen Demokratie.
Nehmen wir als Beispiel den Wahlkampf in Bayern im Jahre 2018. Wie ist es anders als persönliches Geltungsbedürfnis zu verstehen, dass die Wahlkampfaussagen der Volksmeinung angepasst werden? Ist das Bürgernähe oder Wahlbetrug? Wäre es Bürgernähe, brauchte man keine repräsentative Demokratie, sondern einfach nur Volksabstimmungen. Es ist also Charakterschwäche und Visions- und Planlosigkeit in gräßlichster Mischung, einer anderen Partei die Wähler mit deren Parolen wegnehmen zu wollen. Am Ende bleibt die bayrische AfD als einzige Partei als authentisch im Bewusstsein, weil sie niemandem die Parolen wegnimmt, sondern einfach die längst von den etablierten Parteien geschaffene Unkultur für sich nutzt.
Sachsens Bundestagswahl mit dem AfD-Sieg über die CDU hat das vorgemacht. Jetzt soll das „zum ersten Mal ein Sachse als Ministerpräsident“ richten, der seinen Vorgänger (der „Sorbe“ ist) somit als nicht zu den „Sachsen“ gehörend einstuft. (Nun, am Biertisch hätte mir ein Zwinkern eine Ironie in Richtung AfD-Ausländerfeindlichkeit anzeigen können; was ich aber einem, der ausgerechnet sein eigenes Wahlkreis-Direktmandat gegen die AfD verloren hat, nicht abgenommen hätte.) Auch hier also ein Schulz-Effekt? Warten wirs ab.
Gäbe es denn einen Gradmesser für die Stabilität einer Demokratie?
Könnte man eine thermodynamische Größe einführen, die die Abweichung vom Gleichgewicht der Kräfte anzeigt, so könnte man an ihr ablesen, ob bei einer gegebenen „Unterkühlung der Schmelze“ dann durch eine kleine Erschütterung ein plötzliches Wachstum spitzer großer Kristalle passieren kann. (Vergleiche plötzliche Bildung von Eiskristallen in unterkühltem Wasser.) Überträgt man das auf die Gesellschaft, hieße das, dass durch einen relativ kleinen Anlass aus unterdrückten Gegensätzen offene massive Feindschaften ausbrechen, die dann auch durch Vermittler nicht mehr gebändigt werden können und bis zum Bürgerkrieg führen können. (Durch geschickte Manipulation kann so ein Zustand sogar bewusst herbei geführt werden.)
Im Gleichgewicht befindet sich eine Demokratie, wenn alle Teilnehmer der Meinung sind, dass sich die Debatten um die tatsächlichen Probleme drehen, ganz unabhängig davon, ob Kompromisse gefunden worden sind oder nicht. Jeder weiß dann, an wen er sich mit seinen eigenen Problemen wenden kann.
Im Ungleichgewicht befindet sich eine Gesellschaft, wenn ein nicht unerheblicher Teil der Meinung ist, dass die tatsächlichen Probleme unter den Tisch gekehrt werden. Besonders anfällig für solch eine Situation ist naturgemäß eine so genannte Große Koalition, deren Politik auf komplizierten Kompromissen beruht, in denen sich genau dieser nicht unerhebliche Anteil der Bevölkerung nicht mehr wieder findet. Kompromisse sind nur dann auch für den Wähler annehmbar, wenn er ihre Komplexität verstanden hat. Da beide Teile der Koalition aber im Wahlkampf mit Vereinfachungen zu punkten versucht haben, hat eine nachträglich behauptete Komplexität den Geruch einer Ausrede und erhöht das Misstrauen gegen das „Establishment“.
Diese Kurzbeschreibung ist kein Vorwurf an einen der Beteiligten, sondern eine Beschreibung der Gesetze der repräsentativen Demokratie in Zeiten wachsender Komplexität: Der um Wählerstimmen werbende Kandidat glaubt sich durch irreale Vereinfachung volksnah geben zu können und blockiert damit seine eigene spätere Verhandlungsmöglichkeit zu realen komplexen Sachverhalten. Eine Scheinlösung ist die Autokratie, die auf dem blinden Vertrauen der von den Mühen der Ebene der Demokratie enttäuschten Bürger basiert.
Welche „Kultur“ kann dieses Dilemma lösen?
Der Versuch, sich im Wahlkampf negativ auf gemeinsame Werte zu einigen, indem man einen Konkurrenten gemeinsam in die negative Ecke stellt, ist naturgemäß misslungen.
Es ist an der Zeit, eine Dilemma-Kultur zu entwickeln, um den Bürger in die Entscheidung „zwischen Pest und Cholera“ einzubeziehen, statt ihm vorzugaukeln, man könne beides ausschließen. Wo ist die Instanz, die verhindern kann, dass sich einige an diese Kultur nicht halten und damit kurzfristig Stimmengewinne machen? Im Moment scheint der Bundespräsident durch seine Persönlichkeit diese Instanz zu sein. Er sollte in der Lage sein, die Demokratie selbst als Dilemma darstellen zu können, und zwar als das relativ beste aller schlechten Alternativen. Damit könnte den Werbern für Scheinlösungen vielleicht ein klein wenig Wasser abgegraben werden. Am besten wäre es, wenn er das mit einer Kanzlerin gemeinsam täte, die durch Verzicht auf einen Parteivorsitz klarmacht, dass sie die Kanzlerin aller Deutschen ist. (Hoppla, mein Vorschlag ist inzwischen Realität geworden!!!) Das könnte sogar ins Grundgesetz aufgenommen werden, dass eine Kanzlerin und ein Bundespräsident keine Parteifunktionen innehaben dürfen.
Nachtrag 1:
„Strukturen“ und „Stabilität“ sind viel weiter oben bei den unbelebten und rückgekoppelten Systemen behandelt worden. Kann man davon etwas auf unser politisches Umfeld übertragen? „Rückkopplung“ spiegelt sich in der „Auslese“ der Personen wider, die im öffentlichen Leben eine Rolle spielen. Hier müssen wir feststellen, dass die Todsünde der Geltungssucht sowohl in der Parteien-Politik (also nur in der repräsentativen Demokratie) als auch im Journalismus (Neben Information auch Kampf um Deutungs-Hoheit im Rahmen der demokratischen Meinungsfreiheit) nicht erfolgsmindernd wirkt, wenn das kulturelle Selbstverständnis seine immunisierende (gegen die Todsünden wirkende) Komponente verloren hat. Dann tummeln sich die Geltungssüchtigen in den Fernseh-Talkshows, und zwar nicht, um offene Fragen zu lösen, sondern um eine Plattform der Selbstdarstellung zu nutzen; und die Claqeure im Hintergrund benehmen sich wie Fußball-Rowdies. (All das könnten wir uns in der direkten Demokratie ersparen.)
Nachtrag 2:
Ein weiteres Problem stellt der Demokratie-Export dar: Wenn man der These folgt, dass Demokratie nur vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund funktionieren kann, dann ist es fahrlässig zu glauben, man könne Demokratie in Länder exportieren (diese „befreien“), in denen Patriarchat und Autokratie das gesamte Leben bestimmen. Wenn man Demokratie nicht auch im Kleinen als selbstverständlichen Ausgleich lebt (Taubenzüchterverein, Sportverein, Hausgemeinschaft, Partei, Familie), dann funktioniert sie auch nicht im Wettbewerb der Parteien um die politischen Ziele des Staates. Resultat: Der demokratisch Unterlegene „protestiert“ gegen das Wahlergebnis. (Auch in Deutschland gehen schon „aufrechte Demokraten“ gegen das demokratische Wahlergebnis der AfD auf die Straße!)
(Dass nach mehrfachem Misslingen solcher Exporte weiter solche Export-Ziele verfolgt werden, deutet darauf hin, dass es eben nicht um Demokratie geht, sondern wahrscheinlich entweder um bewusste Destabilisierung von Mitbewerbern oder aber um ihre komplette Ausschaltung auf dem Rohstoffmarkt. Die Akteure sollte man also nicht als naiv ansehen oder für nicht lernfähig halten.)
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