Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.2.0 Symmetrie und Ästhetik der Kreativität

Kann man verstehen, was Kreativität ist? Was eint Künstler und Forscher, denen Kreativität nachgesagt wird?

In diesen Abschnitten wird auch untersucht, was die Elemente der einzelnen Kunstrichtungen sind. Ihre Verbindung zu übergeordneten „Strukturen“ ergibt dann ein „Werk“, das dann unter Umständen als Kunst-Werk bezeichnet werden kann. Ob es das kann, hängt vom Betrachter ab, also von seinen eigenen Vorkenntnissen über die Elemente und Strukturen der jeweiligen Kunstgattung. Je neuer oder revolutionärer das vermeintliche Kunstwerk ist, desto abstrakter muss die Erfahrung angewendet werden, um es einordnen zu können. Nach einiger Zeit erweist sich dann oft, dass die Bezeichnung „Kunst“ vorschnell gewählt worden ist, und manchmal erweist es sich, dass erst die Betrachter einige Zeit lernen mussten, bevor sie begreifen konnten, dass sie es mit „Kunst“ zu tun gehabt hatten.

Die Forscher haben es leichter, denn ihre Aussagen über definierte Objekte sind durch andere überprüfbar und unterliegen nur dem Wahrheits-Aspekt. Aber auch sie benötigen Kreativität, nämlich die Fähigkeit, bisher ungestellte Fragen zu stellen oder bisher unterlassene Blickwinkel einzunehmen.

Man hört oft, dass es „Eingebung“ gewesen sei (auch „göttliche“), dass da „plötzlich“ eine neue Idee entstand, oder dass eine „Muse“ zur Inspiration beigetragen habe.

Beides weist darauf hin, dass es ein Zustand gewesen sein muss, in welchem man sich eigentlich auf etwas anderes konzentriert hatte oder überhaupt ohne konkrete Konzentration gewesen war. Nur so ist auch zu erklären, warum „bewusstseinserweiternde Pharmaka“ positiven Einfluss auf die „Kreativität“ haben sollen.

Als Physiker reimt man sich das so zusammen:

Im Unterbewussten spielen die durch viel Übung und Training sicher beherrschten Elemente des „geliebten“ Themenkreises ein Eigenleben, dass in Phasen fehlender bewusster Konzentration auf diese Operationen zwischen ihnen stattfinden, die zu neuen Konstellationen führen, an die man sich dann glücklicherweise manchmal erinnern kann, entweder unmittelbar (man hat das Gefühl, es sei im selben Moment geschehen) oder später (wie an einen Traum).

Was aber kann mit diesen Elementen eigentlich passieren?

Sie können neu gruppiert werden. Dabei können neue Eigenschaften auftauchen, die man bisher übersehen hat. Dabei können neue Strukturen entstehen, die man bisher übersehen hat. Dabei können Grenzen, die bisher als verabredet galten, überschritten werden. Der Verstoß gegen diese Grenzen wird nachträglich genehmigt, weil das Ergebnis überzeugt.

Auch in den so genannten „Intelligenz-Tests“ wird das geprüft, ob man in der Lage ist, eine „neue“ Betrachter-Position einzunehmen, und sei es nur, ein Bild von oben oder von der Seite statt von unten zu betrachten.

Als Physiker würde man also wieder sagen:

Neues ist schon Bekanntes, nur durch Symmetrie-Operation verändert.

Dabei muss man „Symmetrie“ aber sehr abstrakt sehen, nämlich unter dem Aspekt der strukturellen Beziehung zwischen den Elementen. Manchmal besteht das Neue einfach darin, dass man überhaupt eine Beziehung herstellt. Beispiel:

Albert Einstein (Physiker, 1879-1955) hat sich gewundert, warum sich niemand an der Äquivalenz von träger und schwerer Masse stößt, und hat sich gesagt, da muss es eine Beziehung geben, die nicht vom sich stoßenden oder nicht stoßenden Menschen abhängt, und hat das Konzept der Allgemeinen Relativitätstheorie durchgestanden.

Das ist in der Kunst nicht anders:

Arnold Schönberg (Komponist, 1874-1951) fragt sich, warum nicht alle Töne gleichrangig sein sollen, nicht nur im Sinne der Wohltemperiertheit, sondern auch im harmonischen Sinne, und steht das Konzept der Zwölftonmusik durch.

Pablo Picasso (Maler und Bildhauer, 1881-1973) räumt mit den geometrischen Beziehungen aus der perspektivischen Abbildung auf und steht seine kubistisches Konzept durch.

Und das ist auch in der Wissenschafts-Philosophie nicht anders:

Victor Goldschmidt (Kristallograph und Naturphilosoph, 1853-1933) und Sigmund Freud (Tiefen-Psychologe und Naturphilosoph, 1856-1939) waren von ihren Symmetrie-Überlegungen auf ihrem Fachgebiet so überzeugt, dass sie diese „schöpferisch“ auch auf andere Gebiete zu übertragen versuchten und somit zu „Naturphilosophen“ wurden, um wenigstens zwei Beispiele zu nennen. (Dass sie von den angestammten Größen der jeweiligen Fachgebiete belächelt worden sind, spielt hier keine Rolle, denn allein der Versuch der Übertragung gesichrten strukturellen Wissens auf andere Gebiete wirkt ungemein befruchtend!)

Die Zeit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert gilt seitdem als Blütezeit des menschlichen Denkens, wozu auch viele weitere hier nicht genannte „Genies“ beigetragen haben.

Wenn wir also die geometrischen und logischen Einzel-Operationen

und die strukturellen Beziehungen

gekonnt vermischen, kann es uns gelingen, neue Beziehungen darzustellen, egal, ob es sich um Kunst oder Wissenschaft handelt.

Man könnte boshaft sagen, Kreativität sei nichts anderes als genau diese gekonnte Vermischung. Aber: „Gekonnt“ muss sie eben sein!

Man darf allerdings nicht vergessen, dass „Kunst“ und „Wissenschaft“ ihre Kraft erst durch die Wechselwirkung mit den „Konsumenten“ entfalten. Deren Psychologie spielt also keine untergeordnete Rolle, wenn es um die Wirkung der „Kreativität“ geht.

Verliert der Konsument den „roten Faden“, tut er das Ergebnis kreativen Wirkens einfach in den Müll.

Erkennt der Konsument zu viel Bekanntes wieder, tut er das Ergebnis kreativen Wirkens einfach in den Müll.

Wir sehen also, dass der Inhalt des Begriffes „Ästhetik“ mitwachsen muss, wenn er weiterhin als Maß in der Kunst gelten will. Ästhetik ist selbst also im Wandel und ein Element der sich wandelnden Kultur. Die beiden unsymmetrischen Gruppen „Kreative“ und „Verbraucher“ werden zu symmetrischen Akteur-Gruppen im gesamtkulturellen (gesellschaftlichen) Sinne.

Hier beginnt das Spiel mit dem Markt. Und: Mit der Politik, wie wir im Falle „Corona“ gerade erleben dürfen.

Aber das ist „ein weites Feld“… (auf dem auch die Medien herumhüpfen!)