Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.5.1 Die Ambivalenz des Rudel-Wesens Mensch

Kann man politisches Verhalten aus den Genen des Menschen ableiten?

Der Mensch ist ein Rudel-Tier. Das soll heißen, dass er kein Herdentier und kein Einzelgänger ist.

Allerdings: Seine individuelle Streubreite ist so groß, dass genügend Herdentiere und Einzelgänger vorkommen, so dass sie in der Gesellschaft nicht unübersehbar und schon gar nicht unwirksam sind.

Die Ambivalenz des Rudel-Wesens besteht darin, dass es gleichzeitig den Wunsch nach der Geborgenheit in der Herde und nach der Freiheit des Einzelwesens verspürt, es also im

Freiheit-Geborgenheit-Dilemma

gefangen ist.

Es kommt noch ein zweites Dilemma hinzu, das sich in der digitalen Welt von heute deutlicher denn je abzeichnet:

Selbstbild-Fremdbild-Dilemma

Dieses Dilemma zeigt sich besonders in der folgenden Form:

– Dilemma des Wunsches nach Gesehenwerden (Geltungsbedürfnis: Sehnsucht nach Lob) und nach Unsichtbarkeit (Schutz der Privatsphäre: Angst vor Tadel)

Das Netz gibt dem Menschen die Möglichkeit, sein Selbstbild unkontrolliert nach außen zu tragen und so zum Wunsch-Fremdbild zu machen. Da das mit von außen gesammelten Daten kollidieren könnte, wird unter dem Begriff „Privatsphäre“ gegengesteuert. (Früher hat man sich fein angezogen und geschminkt und die Perücke gepudert, heute hat man – wie ich hier – einen Internet-Auftritt unter Klarnamen – wie ich – oder unter Pseudonym.)

Jedes Dilemma führt irgendwann zu einem Konflikt. Am besten ist das in der Zweier-Beziehung erforscht worden (Thema „Kollusion“ bei Jürg Willi zum Beispiel).

Wenn das in der Gesellschaft massenhaft passiert, wird sie instabil.

In der jüngeren deutschen Geschichte ist das gleich zweimal geschehen:

1. Die DDR-Bürger hatten sich daran gewöhnt, „gebraucht“ zu werden (sie wurden von der Gesellschaft umworben, nützlicher Teil derselben zu sein) und waren somit in einer „Masse“ „geborgen“, und sie hatten sich daran gewöhnen sollen, für diese Geborgenheit persönliche Freiheiten zu opfern. Sie haben rebelliert und sich in einer neuen, oppositionellen „Masse“ gefunden, die ihrerseits Geborgenheit bot (und auch den romantischen Kick des „Verbotenen“). Das diktatorisch-statische Establishment hat friedlich aufgegeben.

2. Die ehemaligen DDR-Bürger haben in der Bundesrepublik alle persönlichen Freiheiten gewonnen, von denen sie geträumt hatten, und haben nach 20 Jahren festgestellt, dass es keine Geborgenheit mehr gibt. Nun finden sie neue „Massen“, die diese Geborgenheit bieten (und auch den romantischen Kick des „Verbotenen“). Sie nennen ihr Ziel „Wende 2.0“. Das demokratisch-dynamische Establishment kann nicht aufgeben.

Wir erkennen hier den Unterschied zwischen Rudel und Herde oder Schwarm. Im Rudel gibt es eine strikte Rang-Struktur, im Schwarm nicht. Das Rudel ist von der Intelligenz des Anführers abhängig, der Schwarm hat gar keinen, er entwickelt eine sogenannte „Schwarm-Intelligenz“ mit statistischem Charakter, der auf Genen der Individuen basiert. Das Rudel bietet Geborgenheit gegen fremdes Anderes (Fressfeinde) und gegen fremdes Gleiches (Konkurrenten). Der Schwarm bietet nur Geborgenheit gegen fremdes Anderes.

Wir erleben aber auch die Zusammenführung beider Erscheinungen mit Hilfe der Kommunikations-Medien: Man benötigt keinen persönlichen Kontakt mehr wie im Rudel, wo der Anführer jedes Mitglied einzeln kennt und in Schach hält, sondern man schließt sich anonym einem durch die Medien vermittelten Anführer eines Schwarms an.

Das ist wirklich neu in der Welt und hat in den Religionen (das Medium war noch die sprachliche Überlieferung durch die Missionare) seinen Vorläufer: Man schließt sich aus einer persönlich freien Entscheidung einer Bewegung an, die Geborgenheit bietet, und ist dafür bereit, etwas beizusteuern, was normalerweise eine Verringerung der persönlichen Freiheit mit sich bringt. Es ist eine „Win-Win-Situation“ des Gebens und Nehmens.

Offenbar geht es nicht nur ehemaligen DDR-Bürgern so, sondern vielen Menschen auf der ganzen Welt, insbesondere in den reichen demokratischen Ländern. Sie spüren instinktiv, dass sich in der Welt etwas ändert, auf das weder sie selbst noch das „Establishment“ Einfluss haben. Das macht Angst.

Der Wunsch nach Einfluss ist grundsätzlich berechtigt und grundsätzlich gut. Wenn das Gefühl entsteht, mit parlamentarischen Mitteln ist dieser Einfluss nicht zu erreichen, werden außerparlamentarische gesucht, um die Angst zu beseitigen. Eine Gesellschaft ist also gut beraten, ihre Konflikte öffentlich zu behandeln, damit die Lösungsmechanismen nicht außer Kontrolle geraten.

Ein wesentliches Element des Zusammenlebens mit der Regierung ist das Vertrauen in diese. Wir erleben das gerade in der Corona-Krise, wo in nie dagewesener Weise die Wissenschaft öffentlich in die Debatte einbezogen wird. Dabei gerät die Wissenschaft iherseits in ein Dilemma:

Das Dilemma zwischen den Inhalten der exakten Wissenschaft und dem Zwang zur allgemeinverständlichen Darlegung dieser Inhalte.

Das Gemauschel mit den „vernünftig ausgewählten“ Parametern zur Beschreibung der Pandemie und der erforderlichen Maßnahmen zeigt, wie ungeübt die deutsche Demokratie noch immer damit ist (siehe dort), obwohl sie schon etliche Anlässe gehabt hätte, das zu lernen:

Jeder könnte noch viel aufzählen, aber oft siegt der Populismus, der entweder darauf zielt, die Gemüter zu besänftigen statt Dilemmata aufzuzeigen oder Unklarheiten zu beseitigen, oder aber Gemüter aufputscht, um sein eigenes Süppchen kochen zu können. Ein Politiker, der zum Engerschnallen des Gürtels aufruft, würde erst nach dem Hungertod der Gesellschaft reuevoll gewählt werden…

Ausweg?

Die Schweiz macht es mit vielen Volksentscheiden vor, wie der Bürger auch zwischen den Wahljahren mitentscheiden kann. Es ist wie bei der Kindererziehung: Je schneller man mit den Konsequenzen seines Tuns konfrontiert wird, desto intensiver ist der Lernprozess.

Um es deutlich auszusprechen: Ich finde es grundsätzlich gut, wenn Leute auf der Straße ihre Meinung laut und freidlich sagen. Wenn sie statt von Politikern von Rattenfängern aufgesammelt werden, ist das ein Versagen der Politiker, nicht der Rattenfänger.

Das oben erwähnte Dilemma existiert immer. Übrigens nicht nur in der Politik, sondern auch im Markt. Sonst könnte sich so ein irreführender Begriff wie „Arbeitgeber“ nicht halten.

 

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