4.3.3 Wechselspiel der Strukturelemente der Musik mit denen der Psychologie
Frage:
Geht es mit rechten Dingen zu, wenn Schlagersänger und Volksmusikanten Millionäre sind?
In der Musik passiert dasselbe wie sonst im wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben auch: Die Lager entfernen sich immer mehr voneinander.
Wenn Aktionäre beschließen, einem neuen Vorstand mehr Millionen zu geben, um selber mehr gewinnen zu können, so ist das ihr eigenes Geld und ihre eigene Spekulation und entzieht sich somit unserer Bewertung.
Woher aber kommen die fetten Millionen der Schlagersänger und die mageren Hunderter der Klassik-Orchester-Musiker?
Gerade aus der Sicht der internen Strukturen der Musik ist der Konstruktivismus vor hundert Jahren insofern ein Fortschritt, als er minimalistisch auf jede Redundanz verzichtet. Auch heute kann man erleben, dass bei einer Uraufführung seiner Anhänger mehrere Xylophone weit voneinander entfernt auf der Bühne stehen, ein einziger Mensch, wandernd von einem zum anderen, einige wenige Töne anschlägt und wieder geht, und alles jubelt. Keinen Ton hat er doppelt angeschlagen. Die Forderung, auf die tonliche Umsetzung der Komposition zu verzichten und lediglich die Konstruktionsunterlagen vorzulegen, also das Notenblatt, ist genauso alt wie sie naheliegend ist.
Die Gegenströmung, der Schlager, ist harmonisch einfacher und klarer, aber auch lauter und pompöser geworden als vor hundert Jahren. Er passt in das allgemeine Erscheinungsbild, dass man in einer Zeit, in der man Geräte lediglich bedienen, sie aber nicht mehr verstehen kann, in der man sachliche Zusammenhänge von Behördenentscheidungen nicht mehr verstehen kann, aber auf Wahlkampfgetöse mit eigener Wahlentscheidung reagieren muss, sich dort wohl fühlt, wo man das Gefühl des Verstandenwordenseins, des Mitgenommenwordenseins erlebt.
Man kann das praktisch beweisen, wenn man die entwicklungsgeschichtliche Struktur der Psyche und die entsprechenden Strukturelemente der Musik aufeinander abstimmt: Schlager sind die Fortsetzung des Volksliedes, vor allem, wenn sie mitgesungen werden.
Sehen wir uns also zuerst einmal zwei Kinderlieder an, die jeder kennt: „Alle meine Entchen“ und „Hänschen klein“.
Wir starten mit dem Grundton und schwimmen mit der Tonleiter hinaus auf den See bis zur 6. Stufe (warum heißt es dann aber „auf DEM See“?) und verharren etwa zurück auf der 5. Stufe (und drehen eine Extrarunde), bevor es wieder Stufe für Stufe zurück zum Ufer geht, dessen Sicherheit betont wird, indem wir vor dem Schluss statt der 2. Stufe die 5. als „Anlauf“ nehmen (erste Übung einer bewussten Abweichung vom Erwarteten – der Tonleiter – als betonendes Stilmittel).
(Eine zweite Frage ergibt sich sowohl aus der rhythmischen als auch aus der harmonischen Struktur: Warum liegt beider Schwerpunkt auf der zweiten Takthälfte? Müsste man nicht die ersten vier Töne als Auftakt schreiben? Nun ja, im Kinderlied ist das schön, dass jeder Takt für sich zu einem Zwischenende führt. Das erleichtert den Kleinen das Erlernen eines hierarchischen Strukturverständnisses, wenn jeder Takt wie ein Lied für sich ist. Es werden in der Literatur auch Varianten mit doppelt so viel Takten – also Teilung jedes obigen Taktes in zwei – angeboten, aber keine mit Auftakt.)
Die jetzige 2-Takt-Struktur A – B – A – B‘ – C – C – A – B‘ ist schon viel anspruchsvoller als die (lediglich durch die neumodische Wiederholung des 2. Takts gebrochene) 2-Takt-Struktur A – A des Entchenlieds.
Neu ist auch, dass man sich den Grundton erst erarbeiten muss und mit der 5. Stufe beginnt. Dann wandert man mit der Tonleiter (ab dem sicheren Grundton!) in die weite Welt hinein (wie die Entlein!!) und findet sein Glück am Ende von B‘ wieder auf dem Grundton. Schrittweise etefrnt man sich dann langsam von der gewähnten Sicherheit, bis man dann bewusst wieder zu Hause landet. (Die Dramaturgie des Inhalts ist also perfekt und adäquat musikalisch umgesetzt, wenn man den neuen Text nimmt: „Da besinnt sich das Kind, läuft nach Haus geschwind.“)
So. (Wer „so“ sahcht, hat heute noch nischt jemacht! Weiter in die Tiefe gehen? Okay, dann bitte 4.3.3.1 durcharbeiten! Oder bei 4.4.1 schon einmal „vorblättern“!)
Machen wir nun einfach selber mal einen Schlager, in welchem wir der Sehnsuch nach Geborgenheit, nach Sicherheit in einer Welt, in der jeden Moment durch einen Vollidioten von Politiker ein Atomkrieg vom Zaune gebrochen werden kann, Ausdruck verleihen.
Wir fangen also mit dem Grundton an, der Basis der Geborgenheit. Um seine Existenz ganz bewusst zu unterstreichen, erreichen wir ihn mit einem auf der Terz beginnenden Auftakt aus 4 Sechzehnteln: 3-2-1-2 / 1. Das sitzt, so ist es ganz, ganz sicher. (Schrägstrich soll Taktwechsel anzeigen.)
Nun bauen wir das rhythmische Gerüst total solide wiederholend aus den ersten vier Takten auf, indem wir die Floskel wiederholen, die Harmonie der Begleitung aber der einfachen Kadenz Tonika – Subdominante – Dominante folgend leicht verändern, natürlich durch Einschub der parallelen Molltonart vor der Subdominante, damit der Grundton des Liedes so lange wie möglich im Spiel bleiben kann, nun natürlich umgedeutet als Terz der parallelen Molltonart, als Quinte der Subdominante und dann – besonders raffiniert – im vierten Takt als Quarte des Dominantquartakkordes, der nach Vorauflösung zur Terz der Dominante schreit (was wir ihm im letzten Achtel des vierten Taktes auch gewähren!!), bevor uns diese dann als Leitton zum Grundton zurückführt, der den nächsten Viertakter einleitet, überbaut aber mit der Terz, einer zweiten Stimme nämlich. Der Text dazu muss passen, die Instrumentierung auch:
„Komm doch wieder / her, komm doch wieder / her, brauche dich so / sehr, machs mir nicht so / schwer, ich – meine es doch / gut, hab doch wieder / Mut …“
Naja, den A-Teil könnte man auch wiederholen, dann haben wir schon acht Takte, bevor im B-Teil etwas mehr passieren darf, vielleicht über die Terzverwandtschaft und die Moll-Duodominante als Rückung? Oder ist das schon zu viel? Doch der dadurch aufgebaute Möglichkeitsbaum weiterer Verzweigungen eröffnet ja gerade die Chance auf die diktatorische Festlegung der nun zwangsweise zu hörenden Variante der Auflösung…
Im C-Teil könnte man sogar die gegenüberliegende Terz auch noch mit einbauen, um schnell und mit Pathos wuchtig schreitend auf den Gesamt-Grundton zurückzukommen. (Text ad libitum ergänzen, am Ende müssen sie sich kriegen, im Wechselgesang: „und – ich / bleib – bei / dir„!)
(12 Takte sind blöd, 16 wären wirklich besser, aus As-Dur könnten wir uns längere Heimwege vorstellen!)
Wenn es eine „richtige“ Stimme singt (sie muss etwas vom Normalen abweichen, damit sie durch die dadurch erlebte Besonderheit die ja eigentlich offenkundige Banalität des Hörgefühls aufwertet), kann es ein „Hit“ werden.
Eigentlich ist beides keine „Kunst“, obwohl unzweifelhaft Musik: Die spärlich genutzten Xylophone (siehe ganz oben) und der hier en passant banal konstruierte Schlager. Kritiker aber sind in der Lage, sich an beidem zu profilieren: „Exorbitante Reduktion komplexer Gedankenwelten auf dezidiert eingesetzte Klang-Stille-Folgen, erhöht durch die schreitende Einbeziehung des dunklen Raumes“ und „erst durch die verblüffende Einfachheit der Form ist die universelle Macht der Urverlustangst missverständnisfrei durch jegliches Ohr ans Herz gelangt“. Und nun lässt es sich gut verkaufen – beides: Die 47,2 Sekunden Xylophon an reiche ausgesuchte 150 Festivalbesucher, den Schlager 15 Millionen mal in alle Welt. Wer verdient mehr? Wir wissen es jetzt:
Wir, die Käufer der Schlager der Schlagersänger, sind keine Spekulanten, aber unsere Millionen Einzeleuros machen andere reich.
Aber es besteht eine weitere Frage zu Recht:
Warum geben wir Geld aus für Sachen, die wir selber können?
Glauben wir, dass die, die viel Geld verdienen, gut sein müssen und deshalb als Idole für uns gerade richtig sind und wir uns ein Stück von ihnen kaufen müssen und hinstellen oder hinlegen, damit es jeder sieht? Hallo, die bekommen das Geld von uns, die wir ihnen das Geld geben, weil wir denken, sie sind gut, weil wir ihnen das Geld geben, weil…
Mit Freunden am Lagerfeuer Kanons singen, mit Kindern zur Geburtstagsfeier einen Jubelchor veranstalten, bei der Hausarbeit vor sich hin summen – das ist Beziehung zur Musik. Am besten sich mit einem Instrument neben der eignen Stimme anfreunden. Es ist erstaunlich, wie wenige Leute heute noch in der Lage sind, sich mit Hilfe gewollter Tonfolgen (improvisiertes Singen zu Stegreiftexten oder auch ohne Worte mit „lala“) auszudrücken (außer Stöhnen oder Schreien). Das war früher anders. Die Behauptung von Leuten, die am Biertisch ununterbrochen reden, sie könnten nicht „frei sprechen“, wenn sie sich mal vor einer Gruppe zu einem Thema äußern sollen, ist ein Klacks gegen das Unvermögen musikalischen Ausdrucks. War früher „alles besser“, als noch alle jeden Sonntag dem umspielenden Halbgesang auf der Terz oder der Prime in der Messe gefolgt sind, dessen Strophen oft auf der fragenden Sekunde stehen blieben?
Man lässt eben den Geschirrspüler abwaschen und den MP3-Player singen. Was macht man mit der gewonnenen Zeit?
Man sucht die einfachen Lösungen in einer Welt, die man nicht mehr verstehen kann, und man wählt denjenigen, der Erlösung durch einfache Lösungen verspricht, in die nächste Regierung.
Der Schlager ist die heile Welt. Er gibt den Frieden, den früher der Seelsorger geben sollte. Das Bedürfnis nach Frieden ist menschlich. Sogar die Aggression ist eine mögliche verzweifelte Ausdrucksform desselben Bedürfnisses. Auch dafür gibt es Musik.
Wir machen gleich mal ein Experiment mit den Strukturelementen, um zu sehen, wie einfach es sein kann.
- ein erster Ton soll stehen bleiben („Orgelpunkt“)
- ein zweiter soll sich vom ersten nach unten entfernen
- das soll harmonisch gedeutet und durch die Begleitung entsprechend umspielt werden
Der Einfachheit halber beginnen wir mit der Terz, der Einfachheit halber in C-Dur, also mit dem e.
- e’/e‘ (Terz im C-Dur-Dreiklang)
- e’/d‘ (Teil des Dominantseptakkords für a-Moll in der Terz-Verwandten E-Dur)
- e’/c‘ (Teil des parallelen Mollakordes a-Moll)
- e’/b (Teil des Septakkordes der Tonika C-Dur)
- e’/a (Teil der Subdominante F-Dur mit großer Septime)
- e’/as (Teil der Moll-Subdominante f-Moll mit großer Septime)
- e’/g (Teil der Tonika C-Dur)
- e’/fis (Teil des Duodominanten-Nonakkordes D-Dur)
- e’/f (Teil des Dominant-Sext-Sept-Akkordes G-Dur)
- e’/e (ENDLICH Teil der Tonika C-Dur: zurück am Ausgangspunkt)
Hier haben wir melodisch einfach gehandelt, harmonisch komplexe Beziehungen aufgebaut und die Töne sehr unterschiedliche direkte und indirekte Leit-Eigenschaften (Psychologie: Erwartungshaltungen!!) ausüben lassen. Das darf man nun rhythmisch beliebig ausgestalten und harmonisch beliebig verstärken und hat „ganz nebenbei“ einen herrlichen Baßgang abwärts entworfen (vielleicht gleichmäßig doppelt gezupft gegen den vielleicht synkopierten „Orgelpunkt“ auf e‘?).
Die „mitdenkende Erwartungshaltung“ nutzen zum Beispiel Jazzer beim schwebenden Ende auf der Moll-Terz der Subdominante: Der Hörer „denkt“ selber die nächsten 2 Schritte zur Auflösung: halber Ton abwärts (also vom zum Leitton umgedachten Schlusston weg) zum Grundton der Dominante, Quarte aufwärts (oder über die mitgedachte Terz der Dominante als Leitton einen Halbton aufwärts) zum Grundton der Tonika – zum Beispiel in C: c‘ – b – as (- g – (h ) – c‘.
Tipp für das von Freunden erbetene Vorspiel („Kannst du nicht mal was auf dem Klavier zum Besten geben, bitte-bitte?!“) in überschaubarer Runde („Schubertiade“):
Man beginnt ganz ruhig und nur mit der Melodie (tatsächlich reicht einstimmig, da jeder die Harmonien kennt) ganz einfach in C-Dur mit 4 Takten „Hänschen-Klein“ und geht dann bei Takt 5 ins „Girl from Ipanema“ über. Man muss dann also mit dem Sept-Nonen-Akkord in F – statt in Des wie im Original – weitermachen, dann Sextakkord in G, dann über g (bzw. über B, wenn man im Bass die Sekundenfolge g-a-b-as-ges betonen möchte) und Ges-Septakkord zurück zu F(7/9) usw. usf.). (Der B-Teil gibt dann harmonisch noch viel mehr her, was Rückungen und Dominanten-Folgen angeht; einfach mal googeln! Zum Verjazzen – also zum Neuinterpretieren aller harmonischen Zusammenhänge durch Verschiebung der Wertigkeit der unterschiedlichen Aspekte – ist das Stück genial geeignet…)
Wenn man dabei den Zuhörern ins Gesicht sieht, erkennt man schon ganz am Anfang schnell, wer sich verklapst fühlt und wer schmunzelnd auf die Überraschung wartet. Letztere sind die richtigen Freunde…
Wir wollten aber über Struktur der Musik und über Psychologie sprechen, und da müssen wir auch über die Struktur der Psyche sprechen. Wie schon erwähnt, hat der menschliche Verstand den Segen und den Fluch der Selbsterkenntnis (zumindest der reflektierenden Selbstwahrnehmung) an der Backe. Das hat mehrere Aspekte:
- positiv (meistens jedenfalls): Es ist immer ein Partner für Selbstgespräche vorhanden (aber: verbalisierte Form der Einwandbehandlung beim Denken kann Nächte kosten, wenn sie unkonzentriert abläuft)
- gemischt: Es gibt ein „Gewissen“ als Repräsentanten des kulturell geprägten Fremdbildes (Fähigkeit zur Innen-Außen-Spiegelung)
- negativ: Es gibt die Gefahr der positiven Rückkopplung eines negativen Selbstbildes durch Flucht vor Problemen nach innen
Musik kann also positiv und negativ wirken, ganz unabhängig davon, ob wir im konkreten Falle bereit sind, sie ästhetisch als „Kunst“ einzuordnen:
- Musik kann auch im stillen Kämmerlein als „Außenkontakt“ wahrgenommen werden und die Isolation des Ichs mindern (Musik als Außenwelt-Ersatz)
- Musik kann die Wahrnehmung eines negativen Selbstbildes mindern bis aufheben, indem man sich ihr völlig hingibt (Musik als Droge)
- Musik kann die Identifizierung mit einer Gruppe (der Mithörer) erzeugen und die Isolation des Ichs vollständig aufheben (Musik als sozialisierendes Medium)
- Musik kann völlig unreflektiert körperlich erlebt werden (Tanz-Rhythmus) und dem Geist eine totale Pause ermöglichen (Musik als Mittel zur Aufhebung des Ichs)
- Musik kann als geistige Herausforderung und damit als geistiger Genuss oder aber als ästhetische Vergewaltigung (man kann das Hörorgan nicht immer abschalten) erlebt werden (Musik als Bestätigung des Ichs)
- Musik kann als Beruhigungspille wirken (Konzentration auf minimal strukturierte Musik kann innere Spannungen durch Ausblenden zeitweilig abbauen) und somit Suchtpotential entwickeln (Musik als Ablenkung vom Ich)
- aktives Solo-Musizieren (insbesondere das Improvisieren als Dialog mit sich selbst, als musikalisches Selbstgespräch also) kann zum Lösen von Spannungen führen (Musik als Fahrzeug zur eigenen Mitte funktioniert von beliebigen Randpunkten ausgehend)
- aktives Musizieren in der Gruppe (stimmlich oder instrumental) stärkt das Ich-Gefühl und das Wir-Gefühl gleichzeitig (z.B. Singen in der Kirche) und hat höchsten sozialen Wert (Musik als bewusstes Identifizierungsmittel)
Die kulturellen und privaten Spuren bei der Strukturierung der eigenen Psyche treten also in mannigfaltige und gleichzeitige Wechselwirkung mit den Strukturelementen der Musik und können also deren „Allmacht“ verständlich machen. Deshalb wird Musik leider gern auch dort eingesetzt, wo sie häufig stört: Hinter Dialogen im Film, als Begleitung zum Essen in Gaststätten usw. usf. Das führt dann unter Umständen zu skurriler Werbung: „Einziger Dresdner Weihnachtsmarkt ohne Musik aus dem Lautsprecher!“ Und wirklich ist es dort am schönsten, weil am besinnlichsten, weil am wenigsten fremdgesteuert. Und: Man kann sich in Zimmerlautstärke ruhig unterhalten.
Fazit 1:
Keine andere Kunstform als die Musik kann zweierlei gleichzeitig geben:
- gewollte strukturierte Zeitabläufe von Emotionen
- synchronisierte emotionale Indentifizierung mit dem Erzeuger der Emotion und mit anderen Konsumenten (also ganz echt zur gleichen Zeit am gleichen Ort, am besten unterstützt durch Bewegungen des Körpers)
Musik ist also wie eine Droge für das Erleben von Einssein, sie hebt die Isolation auf. Kein Wunder, dass man damit sehr viel Geld verdienen kann und kein Wunder, dass die Weisen des alten Chinas Musik verpönt haben.
Nachsatz 1-1: Man sollte also lediglich wissend schmunzeln, wenn neben einem ein teures Auto mit teuren Lautsprechern aus offenen Fenstern billige Musik sehr laut ausstrahlt. (Man hört mich, also bin ich. Ein Erfolgsrezept aus sehr früher Kindheit.)
Nachsatz 1-2: Welche Art von Musik zur „Kunst“ zu zählen ist, wurde in diesem Abschnitt nicht behandelt.
Fazit 2:
Als Interpret muss man dosiert konzentriert (Trainingsergebnisse abrufen!) oder völlig gelassen (dem Moment vertrauen!) sein, um alles, was man sich zu einem Stück erarbeitet hat, auch „an den Mann bringen“ zu können.
Da Musik im Zeitablauf geschieht, ist das gleichzeitige Erinnern aller Teile schier unmöglich. Versucht man es trotzdem, geht der Temporallappen des Gehirns in Flammen auf, und man hat Erscheinungen, die einem Déjà-vu nicht unähnlich sind: Man wähnt sich als Hauptdarsteller in einem bekannten Fiasko-Film, den man nicht anhalten kann. Ich habe das in Salzburg beim „Mozart toujours“ (Fantasie d-Moll, KV 397) vor über 15 Jahren erlebt, als meine innere Vorbereitung durch ein Kurzinterview auf der Bühne unterbrochen worden war, bei dem gefragt wurde, ob ich als Laie tatsächlich ohne Noten spielen wolle und wie denn ein Physiker zur Musik käme, das Trockene und das Romantische passen doch wohl nicht. Viel schoss mir durch den Kopf, was man auf diese Standardfrage sagen könne, nämlich, dass beides Phantasie und Disziplin, also Vergnügen am Spiel mit der Struktur erfordere, auch auf Einsteins Geige zum Beispiel. Ich habe dann eine etwas verlängerte Konzentrationsphase auf dem Hocker gespielt, um irgendwie wieder in die Gegenwart zu kommen und den Anfangston zu finden: Das Große D mit dem Kleinen Finger der linken Hand, den d-Moll-Akkord gebrochen nach oben und mit einem Wiederholungschlenker der rechten Hand wieder hinab. (Studenten erzählen dasselbe von der Prüfungsangst vor einer Mündlichen.) Nach den ersten Arpeggien-Takten war ich dann tatsächlich „völlig gelassen“ und konnte das Spiel sogar genießen. Meine Frau aber fragte hinterher, warum ich angfangs plötzlich ganz weiß im Gesicht gewesen wäre… Im Jahr darauf spielten wir (mit einer Leipzigerin) die vierhändige D-Dur-Sonate (KV 381) nach Noten. Den zweiten Satz begann sie – naheliegend! – eine Quinte zu hoch, was ziemlich genial ist, aber schlecht zusammenpasste. Wir machten eine kurze Pause, lächelten uns an, ich nannte ihr fröhlich die richtige Tonart, und dann ging es erneut los. Das verständige Salzburger Publikum hat dies intelligente Missgeschick schmunzelnd honorieren können!
Antwort auf die Ausgangsfrage:
In der Marktwirtschaft geht es nicht darum, „mit rechten Dingen zuzugehen“, sondern um Verkaufserfolg. Wer viel Musik verkaufen möchte, darf die einfachen „natürlichen“ (also auch unreflektiert verständlichen) Elemente der Musik nicht missachten und darf den Hörer nicht mit reflexionspflichtigen Zusammenhängen belästigen. (Das bedeutet nicht, dass man nicht auch eine Snob-Klientel für schwierigere Musik schaffen könnte, die so tut, als ob sie verstünde…)
Kommentar abgeben