Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


1.1.1 Eindimensionaler zellulärer Automat „3 ergeben 1“ (1-3-er Universum)

Frage:

Kann mit der einfachsten binären Abbildungs-Regel-Konstruktion, die nicht trivial (reine Identität (=Konstanz) oder reine Negation (=Oszillation)) ist und symmetrisch (wer sollte a priori eine Unsymmetrie begründen wollen?) die geringste Zahl an Nachbarn einbezieht, eine Struktur entstehen? Und: Muss diese Struktur dann auch symmetrisch sein?

Konkret heißt das:

Für eine Berücksichtigung der binären Zustände von 3 Zellen (Zelle selbst und ihre 2 Nachbarn) für die Bildung des neuen binären Zustands jeder betrachteten Zelle („Neue“) selbst ergeben sich 23=8 verschiedene Ausgangssituationen, denen je eine binäre Eigenschaft der „Neuen“ zuzuordnen ist, was dann also formal 28=256 verschiedene „8-er-Regeln“ ergibt.

Als Erläuterungs-Beispiel soll hier eine einzige (völlig willkürlich ausgewählte!) dieser 256 „8-er-Regeln“ (Regel 01101110) dargestellt werden:

Tabelle 1

vorgefundener Eingang (selbst mit 2 Nachbarn) XXX XX0 X0X X00 0XX 0X0 00X 000
willkürlicher Ausgang als „8-er-Regel“  0  X  X  0  X  X  X  0

BEISPIEL zum Nachrechnen ohne PC (mit Kästchenpapier)

In der ersten Zeile stehen – mal angenommen – die fünf Zeichen „0XX0X“.

Wir beginnen links mit dem ersten Zeichen der zweiten Zeile. Über ihm steht die Dreiergruppe (mit dem ganz rechten zusammen, weil „eingerollt“) „X0X“. Das ergibt laut gewählter Zuordnungstabelle ein „X“. Über dem zweiten Zeichen der zweiten Zeile steht „0XX“, das ergibt auch „X“. Über dem dritten steht „XX0“, was auch „X“ ergibt. 4. Zeichen: „X0X“ ergibt „X“. 5. Zeichen (wieder „eingerollt“: „0X0“ ergibt „X“.

Die zweite Zeile lautet also „XXXXX“. Die dritte ist dann „00000“ und alle weiteren auch. Ende der „Existenz“ von „X“-en!

Die Regel von Tabelle 1 entspricht einerseits einer logischen Schaltung der Art (wenn man die drei Eingänge mit A, B und C und den Ausgang mit D bezeichnet, weiter umformbar in NANDs und NORs sowie NOTs)

D             = (A ^B ^-C) v (A ^-B ^C) v (-A ^B ^C) v (-A ^B ^-C) v (-A ^-B ^C)

= (A ^((B ^-C) v (-B ^C))) v (-A ^ (B v C))

und kann in VB (oder VBA in EXCEL) andererseits nach Eingabe-Abfrage über eine 8-Fall-Unterscheidung realisiert werden (alle Programm-Codes ohne „Tricks“, also nur mit Grund-Funktionen):

ERKENNTNIS 1

Schon eine einzige Vorüberlegung zeigt eine interessante Erscheinung:

Der „Vorwärts-Ablauf“ in der Zeit („Zukunft“) ist durch die Regel eindeutig determiniert, aber aus dem späteren Zustand kann nicht eindeutig auf den Vorgänger geschlossen werden! (Beim UND ist nur die 1 rückzuverfolgen und beim ODER nur die o!) Die Existenz der „Zeit“ als „gerichtete Größe“ folgt also allein aus der Einbeziehung der Nachbarn in den Prozess, und weil dadurch offenbar eine Reduzierung der System-Zustände erfolgen kann (hier werden aus 8 Vorgänger-Zuständen der drei Zellen nur 2 mögliche Nachfolger-Zustände einer Zelle), obwohl auch die Nachbarn nach dieser Regel neu gebildet werden müssen (aber nicht völlig unabhängig, da Nachbarschaft wechselweise besteht!), kann sogar „Ordnung“ entstehen!

Wieso ist die Auswahl der Regel wichtig?

– Man kann schon ohne Experiment voraussagen, dass es Regeln geben kann, die einen der beiden Endzustände bevorzugen: Leere oder Fülle.

– Man kann ebenso voraussagen, dass  „rechts“- oder „links“- oder symmetrische Entwicklungen bevorzugt werden können.

– Unter den symmetrischen Regeln wähle ich hier mal ganz willkürlich solche aus, die einer summarischen „ODER“-Abfrage entsprechen, zum Beispiel: erstens die Regel (00010110), die  entspricht der Abfrage, ob genau „1 von 3“ Vorgängern vorhanden ist (und zwar genau „1“, aber egal, welcher, weil genau die drei 3-er-Gruppen ausgewählt sind, die genau 1 mal X enthalten!!), und zweitens die Regel (01101000), die abfragt, ob genau „2 von 3“ da sind (dto.). (Bitte überprüfe anhand der Tabelle 1, ob die hier aufgestellten Behauptungen stimmen, und bearbeite selbständig eine kurze zufällige Struktur von vielleicht 30 Zeichen mit beiden Regeln, um Verständnis für die weiteren Schritte zu gewinnen!! Was man per Hand auf dem Papier nicht versteht, kann man auch nicht programmieren…)

Zusatz-Bemerkung:

Solche ODER-Regeln haben den sachlichen Vorteil, dass sie einer physikalischen Realität der „Ununterscheidbarkeit“ von Nachbarn unter bestimmten Voraussetzungen entsprechen, z.B. wenn diese den gleichen Abstand haben und ein reines Abstandsgesetz gilt.

Für den Start des Zeitablaufs lassen sich vier prinzipiell verschiedene Zustände denken:

– leeres Universum („Es werde Licht!“)

– ein einziges Teilchen („Adam“)

– stochastisch verteilte Teilchen („Urknall“)

– vorgegebene Struktur (widerspricht der Fragestellung nach Strukturentstehung)

(ALLE folgenden Grafiken sind Screenshots von Modellierungen in VB vom Autor 2017 – sofern nicht andere Quellen angegeben sind – wobei für die leere Zelle statt einer 0 der wegen besserer grafischer Unterscheidbarkeit im Textfeld  das Leerzeichen gesetzt worden ist, für die 1 das große X – am Anfang eben als primitive alphanumerische Ausgabe – und später dann ein grafischer Vollkreis.)

Bei einem „Adam“-Start ergibt sich nach Erkenntnis 1 immer die gleiche Struktur:

     

Musterentwicklung nach der unsymmetrischen Regel (0110 1110): weiter unten entstehen dann schräge Streifen

Schon bei diesen ersten (wirklich sehr, sehr einfachen!) Bildern sollte man als Leser unbedingt überprüfen, ob man sie selber Zeile für Zeile von oben nach unten nachvollziehen kann. Nur dann, wenn man zu den gleichen Ergebnissen kommt, hat man verstanden, worum es geht. Und erst dann darf man weiterlesen, wenn man verstehen will, was in den nächsten Schritten passiert. Und auch dort sollte man möglichst alles nachvollziehen können, wie in einem Lehrbuch. (Oder aber man beschränkt sich auf das ästhetische Vergnügen an den Bildern und Schlussfolgerungen und freut sich über den Autor – danke! – statt über sich selbst als Verstehenden der Zusammenhänge.) Selbstverständlich darf man auch in Lehrbüchern oder im IN recherchieren!

Bei einem stochastischen Start des ringförmig eingerollten Universums ergeben sich grundsätzlich solche oder sehr ähnliche Strukturen, je nach der unter den 256 Möglichkeiten ausgewählten Regel:

Verlöschung eines zufälligen Starts in lauter Dreieckstrukturen (Regel 1010 0000)

Streifenmuster der Regel (0110 1100)

Die Regel (1000 0001) ergibt ein Dreiecksmuster: Existenz nur bei entweder drei oder null Vorgängern.

Helle Dreiecke der Regel (0111 1110)

Schiefe Dreiecke und schräge Streifen der Regel (0110 1110)

Man kann sich vorstellen, was es für einen Spaß macht, viele Regeln auszuprobieren und dabei zu lernen, Erwartungshaltungen auszubilden, wie denn das nun gewählte Universum „reagieren“ könnte. Dabei spielen sowohl räumliche als auch Eigenschafts-Symmetrien sowie auch Mengen an X (oder leer) eine nicht geringe Rolle.

ERGEBNIS:

Da hier nicht alle Varianten dargestellt werden können, beschränken wir uns auf die entstehenden drei Strukturgruppen:

  1. schnell erlöschende Startstruktur: „Leere“
  2. ortsfeste Kleinstrukturen (senkrechte Streifen)
  3. dauerhaftes Chaos mit erlöschenden/wandernden Kleinstrukturen (Dreiecke/schräge Streifen)

Interpretation der Experimente:

(Bedenke, dass jeder Zustand zu einem Zeitpunkt als eine Zeile des Ausgabefensters erscheint und dass der zeitlich nachfolgende Zustand darunter geschrieben worden ist, die Senkrechte also die Zeitachse eines eindimensionalen Universums ist!)

Falls es eine „Welt“ (oder ein „Universum“) gibt, in welchem einfache Nachbarschaftsbeziehungen zwischen den Zellen den nächsten Zustand der Zellen beeinflussen, so können

– zufällig vorhandene chaotische Strukturen vergehen

– lineare Ketten entstehen und vergehen („Dreiecke“)

– feste unveränderliche Strukturen entstehen („Streifen“)

– feste oder oszillierende Strukturen sich konstant bewegen („schräge Streifen“)

– zufällige chaotische Strukturen neue chaotische Strukturen erzeugen

Bestätigung des statistischen Satzes:

Bei einer genügend großen Zahl von Zellen oder einer genügend langen Zeit passiert tatsächlich auch alles, was in einem gegebenen Regime „passieren kann“. („Alles, was möglich ist, wird irgendwann oder irgendwo auch wahr.“)

JETZIGER STAND DES ERKENNTNIS-GEWINNS:

Die Grundsätze aus der Thermodynamik, dass alles zum Ausgleich und zum Chaos strebt, gehen davon aus, dass alle Teilchen „Einzelteilchen“ sind und nichts voneinander „wissen“ außer einem energetisch ausmittelnden Stoßprozess. Sie können nicht „entstehen“ oder „vergehen“. Es gelten die Erhaltungssätze für Teilchenzahl, Gesamtenergie und Gesamtimpuls.

In unserem Beispiel können „Teilchen“ entstehen und vergehen. Was könnten das für „Teilchen“ sein? Denkt man an die sehr ähnlichen Dreiecksmuster der Kegelschnecken (Conus sp. u.a., siehe dort unter 3.1), so könnte man sagen, dass unsere hiesigen „Teilchen“ chemische Reaktionsprodukte auf der Basis einer Katalyse sind und einer Lieferanten-Umwelt entnommen werden können. Auf diese Weise könnte man entweder eine nur zeitliche Umordnung oder auch eine zeitlich-räumliche Anordnung in die bildlichen Darstellungen interpretieren.

Das scheint aber nicht wirklich wichtig zu sein, da wir bisher nur der philosophischen Frage nachgegangen sind, ob aus einem Chaos eine Ordnung werden kann, wenn es feste Nachbarschaftsregeln gibt. (Wer diese aufstellt oder durchsetzt, das haben wir uns nicht gefragt.)

Diese Frage können wir jedenfalls mit JA beantworten!

(Zur Fortsetzung)

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