3.3 Sinnesorgane der Gliederfüßer
Kann man die eigenartigen Erfahrungen, die man als Hobbyfotograf von Insekten und Spinnentieren macht, begreifen?
Zwei Erfahrungen sind ganz prägnant:
Erfahrung 1:
Sitzt ein Insekt auf einem Blatt, das vom Wind arg gebeutelt wird, ist es schwierig, ein nicht verwackeltes Foto zu schießen. Man wartet also, dass der Wind nachlassen möge. Genau in dem Moment, wo man auf den Auslöser drücken will, schlägt eine Bö das Blatt gewaltig zur Seite. Irgendwann ist die Geduld am Ende und man versucht ungeschickt, mit nur einer Hand zu fotografieren und mit der anderen das Blatt oder den Zweig, der das Blatt trägt, zu „beruhigen“. Genau in diesem Moment, wo man das blatt berührt, fliegt das Insekt auf oder lässt sich vom Blatt fallen.
Was kann da passiert sein? Ich kann mir das nur so erklären, dass die Gliederfüßer mit ihren Füßen feinste Schwingungen aufnehmen und filtern können, sozusagen Akkorde hören. Sowie ein Misston diesen Akkord stört, sind sie augenblicklich in Alarmbereitschaft.
Dabei ist das Ganze überhaupt nicht trivial, denn jedes Blatt und jeder Zweig hat eine andere Eigenfrequenz, die in der Situation der erzwungenen Schwingung durch den Wind auch noch anregungsbedingt variiert. Egel, ob man am Blatt oder am Zweig eine Dämpfung probiert, das Insekt reagiert augenblicklich.
Das kann nur bedeuten, dass diese winzigen Tierchen eine exakte Frequenzanalyse durchführen können, deren Frequenzbereich deutlich unter unseren Hörfrequenzen liegt. Da sie außerdem aber auch die Frequaenzen ihres eigenen Flügelschlags und dessen ihrer Partner kennen, müssen sie über unterschiedliche Empfangssysteme verfügen. (Wir kennen das auch von den Elefanten, die mit den Füßen Infraschall hören.) Die oberen Frequenzen, die ich mit einem regelbaren Winkelschleifer erzeuge, locken jedenfalls regelmäßig – je nach Frequenz – unterschieliche Insekten an.
Die Insekten auf dem Blatt hören also offenbar mit den Füßen – so nun die Hypothese – eine Verstimmung des niederfrequenten Blatt-Zweig-Orchesters, auf das sie sich nach der Landung eingehört haben, und schließen daraus „Gefahr“, also Flucht!
(Ob diese Analyse eine Laufzeit-Messung zwischen den Füßen ist oder eine reine Frequenzmesssung, wissen wir nicht. Ersteres wäre deshalb möglich, da es sich nicht um rein elastische Schwingungen handelt, also unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeiten je nach Frequenz („Dispersionsrelation“) zu erwarten sind.)
Erfahrung 2:
Die Komplexaugen der Insekten und sogar die Punktaugen der Spinnen haben neben dem Nachteil der geringeren Auflösung (im Vergleich zu unseren großen Linsen und winzigen Rezeptoren) den Vorteil einer leichten Algorithmierbarkeit von Winkelgeschwindigkeiten starker Kontrastlinien. Damit nehmen sie erstens im eigenen Fluge die Umwelt entfernungsabhängig wahr und zweiens in der eigenen Ruhe fremde Bewegungen. Die Reduzierung auf die Winkelgeschwindigkeit hat den Vorteil, dass nahe langsame Bewegungen und ferne schnelle Bewegungen gleich bewertet werden, was für die eigene Sicherheit gut ist. Im Umkehrschluss muss der Fotograf also darauf achten, dass er sich mit möglichst wenig seitlicher Bewegung (Parallaxe) langsam auf das Insekt oder das Spinnentier zubewegt, um es nicht zur Flucht zuveranlassen. Das kann unter Umständen mit einer prächtigen muskulären Belastung durch die erforderliche Gleichgewichtserhaltung des schweren Menschen verbunden sein, aber das ist es wert. Der Komplexaugen-Computer des Insekts wertet offenbar die „Übergabe“ eines Kontrastes von einem Punktauge zum anderen nur in einer begrenzten Zeitspanne aus.
Auf diese Weise können wir mit der Erfahrung 2 den Ärger der Erfahrung 1 etwas kompensieren und doch noch zu schönen Makro-Fotografien von Insekten oder Spinnen (auch auf Pflanzen!) kommen. Hier sollen einige Spinnen und Schwebfliegen zur Demonstration genügen (man beachte das höchst gefährliche Liebesspiel des Garten-Kreuzsspinnen-Männchens!):
Wir dürfen also ganz im Sinne des Gesamt-Themas dieser Seiten schließen, dass die Winzlinge „Gliederfüßer“ unsere Welt strukturierter wahrnehmen, als wir das gemeinhin vermuten. Sie sind sozusagen „hochmusikalische“ Zeitgenossen.
Die Liebe zu den Insekten eröffnet uns völlig neue Sichten auch auf unsere eigene Welt.