Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.2.4 Struktur und Auge

Geometrische „Muster“ sehen wir mit dem Auge. Wir können mehr „erkennen“, als wir sehen, weil wir Verstand haben und Gewohnheit oder Erfahrung.

Aber wir haben auch Augen, die einen zeitlich „gleitenden Mittelwert“ vermitteln, was sehr günstig ist, weil dadurch ein Kinofilm nicht „flackert“.

Das ist mir so richtig bewusst geworden, als ich stehende Wellen in flachen Bachläufen fotografiert habe: Die Fotos waren total enttäuschend, weil die wunderbaren Muster „gefiederter“ Wellenmuster „nicht richtig“ wiedergegeben worden sind. Im Augenblick habe ich noch mehr Fotos geschossen, weil ich den Fehler bei mir vermutet habe. Aber alle waren „schlecht“.

Die Fiederchen des Wellenmusters schwingen alle um ihren stabilen Zustand und sehen also alle in jedem Moment wieder etwas anders aus. Das Auge mittelt etwa eine Zehntelsekunde oder mehr, das Foto aber entsteht im Viertel einer Hundertstelsekunde. So sehen wir also eine „Struktur“, die eigentlich nur theoretisch eine stationäre ist.

Mit besseren Kameras als der meinen könnte man Fotos mit Langzeitbelichtung machen, wie sie jetzt gerade in Mode sind, wenn Meereswellen oder Gebirgsbach-Wasserfälle „verschmiert“ werden. Dann wäre folgendes Foto von gestern in Kleingiesshübel in der Sächsischen Schweiz (Corona-Vereinzelungs-Wanderung außerhalb der Großstadt!) viel besser geeignet, die Vogelfeder-Struktur des oberflächlich gewellten Strömungs-Querprofils zu zeigen:

Man erkennt, dass viele kleine „Buckel“ existieren, die aber das Auge nicht wahrnimmt. Diese Buckel sind Kreuzungspunkte von reflektierten Wellen und könnten theoretisch soger „stehende Buckel“ sein, sind aber mit dem mittelnden Auge nicht zu erkennen, weshalb diese Interpretation entfällt. Es liegt deshalb nahe, dass diese Buckel wandern und dadurch den Eindruck der – allerdings stehenden! – Vogelfeder erzeugen, die hier etwa 60° gegen die Fließrichtung geneigt war und gleichzeitig mit den – ebenfalls „stehenden“ – Querwellen „existierte“.

Ich muss wohl doch an meiner Kameratechnik arbeiten…

Für die „Bewertung“ der Leistungsfähgkeit unserer Augen aber bedeutet das, dass neben dem riesigen Vorteil der logarithmischen Empfindlichkeit auch die zeitliche Mittelung ein Vorteil ist, weil sie

– erstens die Datenflut reduziert und

– zweitens Strukturen erkennen lässt, die über den Augenblick hinausgehen, ja, die im einzelnen Augenblick gar nicht in Erscheinung treten, weil sie ihrer Natur nach selbst Mittelwerte einer schwingenden Vielfalt darstellen.

(Mit dem Ohr verhält es sich bei der Rezeption von Musik ja nicht viel anders…)

Das Thema „optische Täuschung“ ist dann allerdings tatsächlich auf „Erfahrung“ zurückzuführen und deshalb keine Leistung des Seh-Vorgangs an sich.

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