Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.4.4 Sprache als Element der Kommunikation

Frage:

Kann man aus der Struktur einer Sprache auf ihren Ursprung und ihr Werden schließen?

Eigentlich müsste man noch viel weiter vorne anfangen:

Welcher Mix aus Kommunikations-Möglichkeiten (Trennstrich für bessere Lesbarkeit, orthografisch nicht erforderlich!) steht uns eigentlich zur Verfügung, und wann und wo nimmt die Sprache den wichtigsten Platz ein?

Schwarm- und Herden-Tiere können ohne Kommunikation nicht existieren.

(Wird jetzt das Sprach-Problem einfach durch den Trick der Umbenennung gelöst?)

Der Begriff „Kommunikation“ wird heutzutage, ähnlich wie der Begriff „Selbstorganisation“, inflationär für Erscheinungen an Nicht-Subjekten verwendet. Man müsste ihn eigentlich in „K. i.e.S.“ und „K. i.w.S.“ trennen.

K. i.w.S. wird von Botanikern auf Bäume (Wer ist ein „Baum“, wenn jedes Blatt einzeln reagiert?) angewendet, deren Blätter (oder Wurzeln) chemische Stoffe von sich geben, die von anderen Blättern (oder Wurzeln, auch anderer Bäume) registriert werden und eine chemische Reaktion auslösen. K. i.w.S. wäre dann die Umgruppierung von Sandkörnern zu strukturierten Riffeln als „Selbstorganisation i.w.S.“ mit Hilfe des Windes.

K. i.e.S. wäre eine Aufforderung eines Individuums einer Tierart an ein anderes, eine bestimmte Handlung zu tätigen oder zu unterlassen, welche von dem anderen Individuum auch verstanden wird. (Man lese bei Konrad Lorenz über die dabei entstehenden Konflikte zwischen verschiednen Tierarten nach!)

Ob diese Aufforderung durch Gesten, Töne, Gerüche oder sonst etwas stattfindet, spielt noch keine Rolle. Gebärdensprache oder Fingerzeichen gibt es auch beim Menschen als Sprach-Ersatz. (Die chemischen Mitteilungen über Parfüm-Wolken lasse ich mal unberücksichtigt.)

Mit dieser einfachen Erkenntnis sollte man nun also meinen, dass die „Wörter“ (Begriffe?), die Handlungen kennzeichnen (Verben, Tätigkeitswörter, Tuwörter und wie sie alle heißen), als erste dagewesen sein müssten.

Wenn man aber Aufforderungen zu Handlungen auch ohne Wörter (ohne Sprache) verständlich machen kann, wozu dann Wörter?

Hinweise auf einen Gegenstand, ein Ding, kann man ebenfalls mit Gesten erledigen, mit einem Fingerzeig zum Beispiel. Pantomime würde nicht funktionieren, wenn das nicht ginge. „Hol mir die Filzpantoffeln!“ geht mit drei Gesten: Auf den Partner zeigen, dann auf die Pantoffeln, dann im Bogen auf sich selbst. Jeder versteht das.

Erkenntnis 1 beim Vergleich der Informationsträger:

Die Laut-Sprache (das gesprochene Wort) hat als akustisches Signal den Vorteil, fast richtungsunabhängig empfangen werden zu können.

Erst die Hinweise auf etwas nicht sichtbares bedürfen einer abstrakten Übertragung. „Ist noch Geld auf dem Konto, Brühl?“ kann man mal versuchen: Fingerzeig auf Brühl, Daumen-Zeigefinger-Wisch, fragende Miene. Könnte klappen, da Brühl die Frage nicht das erste Mal empfängt. Zeichensprache eben, die mit vereinbarten (eingespielten) Zeichen funktioniert. Aber dieses Funktionieren ist eine Rückübertragung auf Zeichen, die für abstrahierte Begriffe stehen. Dass sie auch mit „Ausländern“, also Menschen, die für das gleiche Objekt eine andere Lautfolge vereinbart haben, ebenfalls funktioniert, ist hierzu kein Widerspruch. (Es wirft aber die neue Frage auf, was unter „Begriff“ zu verstehen ist: Das Wort oder seine Bedeutung?)

Mir scheint, dass Sprache erst dann wirklich wichtig geworden ist, als man eine gemeinsame Handlung „planen“, also geistig vorwegnehmen musste. Man musste Möglichkeiten oder Varianten des künftigen Vorgehens austauschen können. (Eine Weile geht das einfach durch gute und schlechte Erfahrung mit Hilfe einer gemeinsamen Erinnerung selektiv, aber einen qualifizierten Einspruch kann man nicht mit Kopfschütteln tätigen!)

Das wäre also die Phase der gemeinsamen Jagd unserer Vorfahren, die sich von der Jagd eines Rudels Wölfe oder einer Löwen-Familie unterscheiden soll. Das wäre auch die Diskussion um eine günstige Form einer Verteidigung gegen eine Nachbarfamilie. Hier versagen die Gesten, Mienen und Grunzlaute.

Spannend wäre auch die Frage, ob Wörter oder Zeichnungen zuerst da waren oder gleichzeitig entstanden, um Wort-Inhalte auch ohne Vorhandensein der entsprechenden Objekte erläutern zu können? Hieroglyphen und chinesische Zeichen scheinen hierfür Beleg zu sein wie alte Felszeichnungen.

Erkenntnis 2 beim Vergleich der Informationsträger:

Zeichen und Bilder können sowohl als Speicher als auch als Ersatz für das akustische Signal verwendet werden. Sie ersetzen damit sowohl das Gedächtnis als auch die just-in-time-Kommunikation.

Über den Handel und die Verwaltung (Verteidigung) werden dann geografische Gebiete mit einheitlichen Lautformulierungen entstanden sein. Durch Selektion wird manches geschehen sein, aber: die Wikinger sollen ohne Schriftsprache erfolgreich gewesen sein.

Die Schriftsprache ist zur unpersönlichen Weitergabe von Wissen notwendig, die akustische Sprache für die persönliche. Das erklärt, warum die Erfindung des Buchdrucks eine kulturelle Revolution war. Bis dahin galt das Bild als vorherrschende Ergänzung zum Mündlichen (siehe Ausgestaltung von Kirchen). Das Schriftliche war vor allem den Gelehrten vorbehalten, die sich auch noch bewusst durch das Latein abgegrenzt haben, dafür aber international verständigen konnten, wodurch ihre Sonderstellung noch ausgebaut worden ist.

Das „Wissen“ (nicht nur der Gelehrten!) unterteilt sich ganz grob in drei verschiedene Kategorien: Fakten, Zusammenhänge (Strukturen!), Prozeduren. Dabei wäre das Wissen über die Zuordnung von Wörtern zu Gegenständen, Tätigleiten, Eigenschaften etc. – also die Sprache – den Fakten zuzuordnen. (Man beobachtet allerdings, dass Sprachgewandtheit und Fähigkeit zum prozeduralen Denken – Anwendung des prozeduralen Wissens auf neue Sachverhalte – oft gleichzeitig auftreten.)

Zwischenfrage: Kann man auch in Bezug auf die Sprache eine ontogenetisch-phylogenetische Parallele ziehen?

Probieren wir es. Alle brutpflegenden Tiere können nicht anders, als mit der Brut zu kommunizieren. Die ersten Kontakte nach der Geburt sind taktiler Art: Man schubst die Jungen in die gewünschte Lage, die Jungen suchen die Zitzen taktil – die Augen sind bei vielen noch geschlossen. (Vorher im Mutterleib – jetzt beschränken wir uns auf Säugetiere – gab es ebenfalls Eindrücke von Bewegung und Schall!) Bei den Paarhufern, die gleich stehen und laufen können, spielt der Geruchssinn eine große Rolle.

Wir wollen ja hier nicht auf die „Prägung“ eingehen, sondern auf die Kommunikation. Also: Nach der ersten Nahrungsaufnahme und dem Schutz vor Auskühlung geht es bald um die Übermittlung von Verhaltensweisen. Korrekturen können weiter taktil erfolgen, aber nach dem Verlassen des Nestes braucht man „Fernwirkung“. Hier sind Gesten für die Augen oder Töne für die Ohren angebracht. Die Augen von Pflanzen- und Fleischfressern sind aber grundsätzlich anders gestaltet (Räuber-Beute-Situation), die Ohren aber sind gleich und ständig auf Empfang aus dem kompletten Raumwinkel eingestellt (wenn auch bei vielen mit bewusster Möglichkeit des räumlichen Ausrichtens versehen). Es ist also kein Wunder, das akustische Signale zur Beeinflussung des Nachwuchses gewählt werden.

Der Luxus des kreativen Singens von Amseln ist erst da, wenn der Nachwuchs groß und der Bauch satt sind. Dann ist neben der Revier-Bezeichnung auch noch die Individualität auf dem Schirm: Das ist nicht irgendein besetztes Revier, sondern „meins“! (Wie wir heute wissen, können auch Mäuse – im Ultrsachall – individuelle Töne von sich geben.) Das Spiel der Amseln ist ein Zeichen dafür, dass kreatives (und: nachahmendes!) Lautgeben nicht nur beim Menschen angelegt ist.

In unserer heutigen Sprache gibt es verschiedene Wörter für das unbewusste Empfangen und das bewusste Synchronisieren von Sender und Empfänger:

Diese Sprach-Feinheiten verraten, dass einmal die Erfahrung gelehrt hat, dass es vorteilhaft ist, seine Sinnesorgane bewusst zur Kommunikation zu nutzen. Und: Es ist schon spannend, dass im Deutschen eine Vorsilbe genutzt wird statt eines anderen Wortstamms (wie hier in anderen Sprachen aufgeführt). Auf diese Weise kann beides verdeutlicht werden: Allgemeines und Einzelnes, Gemeinsames und Unterscheidendes. „Weghören“ und „Wegsehen“ sind dann schalkhafte Erweiterungen dessen und ist in den anderen beiden angeführten Sprachen nicht so einfach zu gestalten. „Überhören“ und „Übersehen“, „Durchsehen“ usw. usf. lassen wietere Schlüsse zu.

Noch einmal: Kann man nun aus den unterschiedlichen formalen Strukturen der Weltsprachen auf unterschiedliches Werden schließen?

Nebenbemerkung:

In der Corona-Pandemie wird unterschiedlich gehandelt. Im „Land der Dichter und Denker“ mit der hochkomplexen Formen-Grammatik wird viel mehr gedichtet und gedacht als gehandelt. Die Werte-Skala für das Handeln ist dort hochkomplex und ruft viele Bedenkenträger auf den Plan, die selbst in einer Krise Gehör finden, weil schon die Frage nach der Existenz einer Krise mit Bedenken behandelt wird.

Folgerung:

Da auch heute in einer globalisierten Welt noch viele Sprachen existieren, ist der Auslese-Druck offenbar nicht groß genug, um deren Stärken und Schwächen entscheidend wirken zu lassen. Da gleichzeitig elektronische Hilfen existieren, die sowohl eine Sprach-Eingabe in eine Maschine mit einem vorschlagenden Verzweigungsbaum ergänzen als auch Übersetzungen realisieren können, wird das in Zukunft auch nicht anders sein.

Fazit:

Sprache als Element der Kommunikation in der menschlichen Gesellschaft wird zum Alleinstellungsmerkmal im Tierreich, was besonders durch die Schriftsprache zu einem Selektionsvorteil führt.

Es ist heute kein Selektionsvorteil der unterschiedlichen Welt-Sprachen untereinander zu erkennen.

In einer Überfluss-Gesellschaft wird Sprache zum Spiel der Werbung. Diese Bereicherung und Verwässerung in einem geschieht parallel zur Uniformierung durch die Globalisierung.

Sprache ist also auch heute in einem ständigen Wandel, wie auch das Denken über Werte und Prioritäten, wie deshalb auch die Gewohnheiten. Alles bedingt sich gegenseitig und ist bei heutiger Kommunikation durch noch so gutwillige „Sprachhüter“ nicht aufzuhalten.

Was früher in der Schriftsprache die Stenographie war, sind heute Icons. Die Schriftsprache in den Kurznachrichten ist ein Gemisch aus Kürzeln und Bildchen. Das ist hocheffizient. Soziopsychologie ist hier aber nicht das Thema.

Die Sprache in den Filmen und Reportagen wird häufig mit Musik unterlegt, also einer weiteren Rezeptions-Ebene, die aber frei von Kommunikation ist. Sie bedient das Bedürfnis nach betäubender Reiz-Überflutung als Einbahnstraße der eigentlich kommunikationsfreien Mitteilungsaufnahme: Zuschauen beim Leben anderer, bewusstes Erzeugen positiver Ich-Gefühle.

Eigentlich ist ja jeder von uns ersetzbar oder überflüssig. Das nicht ständig spüren zu müssen, gibt es vier Arten der Sinngebung seines Seins und Tuns:

ODER ABER: Rentner-Luxus: Ein Hobby wie zum Beispiel: Beschäftigung mit der Sprache als solcher oder mit anderen strukturierten Erscheinungen „hinter den Dingen“.

 

 

Kommentare

Joachim Oelschlegel am Samstag, 10. April 2021:

Das sind alles sehr interessante , und gut strukturierte Gedanken. Es gäbe nun die Möglichkeit, über den Begriff Kommunikation zu reden, denn dieser wird hier nahezu intuitiv, als selbstverständlich vorausgesetzt. Genau das schlage ich aber nicht vor. Das Problem liegt in der weitverbreiteten Annahme von „abstrahierte Begriffe“. Was ist dann das Gegenteil ? Nicht abstrahierte Begriffe? Wir müssen uns also auf eine Ebene über die Begriffe begeben; sprich die Struktur des Begriffes ergründen um danach wieder herunter zu klettern und die vorhandene Definitionsstruktur von Kommunikation zu bewerten. Die Welt ist vom kleinsten bis zum größten strukturiert. Demzufolge wird auch der Begriff selbst eine Struktur haben. Genau darüber möchte ich mit Dir, lieber Jochen mich demnächst weiter unterhalten. Denn „abstrahierte Begriffe“ ist doppeltgemoppelt und damit irreführend.
Gruß Joachim O.

Uta am Dienstag, 13. April 2021:

Dass Kommunikation mehr umfasst, als (gesprochene bzw. geschriebene) Sprache hast Du schon dargestellt. Darauf will ich jetzt nicht näher eingehen.
Damit Sprache für die Kommunikation eingesetzt werden kann, müssen Wörter eine Bedeutung – eine Semantik bekommen; d.h. aus Wörtern müssen Begriffe / Konzepte werden.

Was ist ein Messer?
Eine mögliche Beschreibung wäre: Ein Werkzeug mit dem man etwas schneiden kann und das einen Griff und eine Klinge hat.

Wir können einen Algorithmus trainieren, Wörter und damit im Zusammenhang stehende Wörter (grammatikalische Strukturen und korrespondierende Statistik) in einem Text zu identifizieren. Auf der Grundlage eines repräsentativen Corpus sind aktuelle Programme daher auch ziemlich erfolgreich darin, akzeptable Übersetzungen vorzunehmen.

Aber mit Verständnis des Satzes bzw. Textes hat das nichts zu tun. Also wie bekommen Wörter eine Semantik?

Kinder lernen eine Sprache durch Nachahmen und Interaktion mit ihrer Umwelt. Wir nehmen ein Messer in die Hand; spüren sein Gewicht und wie es in der Hand liegt. Durch Benutzen bzw. Beobachten lernen wir, dass man mit dem Messer eine Tomate schneiden kann, einen Stein aber nicht. Wenn wir über die Klinge fahren, merken wir, dass sie scharf ist und wir vorsichtig sein sollten, damit wir uns nicht verletzen.

Ist der Erwerb von Semantik damit grundsätzlich an Sensorik und Interaktion mit der Umwelt gebunden? Könnte eine Maschine das prinzipiell auch lernen, wenn wir sie mit entsprechender Sensorik ausstatten würden?

Die Inuit haben zahlreiche Wörter für Schnee, weil das für sie wichtige Konzepte in ihrer Lebenswirklichkeit sind. Ich kann zwischen Pulverschnee und Schneematsch unterscheiden. Könnte ich aus einem Fachbuch die Schnee-Konzepte der Inuit lernen? Oder müsste ich dazu doch in ihre Heimat reisen, um die verschiedenen Formen von Schnee zu sehen, anzufassen, mich darauf zu bewegen – hören wie er quietscht, spüren wie man darauf rutscht, damit ich die Unterschiede antizipieren und verstehen kann?
Kann ich einem blinden Menschen die Schönheit und Wirkung von Farben erklären? Eine bunte Blumenwiese, ein Gemälde, ihr Zusammenspiel in der Mode? Kann ich einem tauben Menschen Geräusche, Klänge und Musik erklären?

Erhalten Wörter also nur dann eine echte Bedeutung im Sinne einer Semantik, wenn sie mit eigenen Erfahrungen verknüpft werden können? Neue Begriffe, insbesondere wenn es sich nicht um gegenständliche Objekte handelt, müssen mit bereits bekannten Begriffen erklärt, also in Beziehung gesetzt werden. Daraus entsteht eine Ontologie und letztendlich ein Verständnis der Welt.

Interessant ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen individuellen Repräsentationen von Konzepten bedingt durch die eigene Erfahrungswelt und einem allgemeinen Konsens zu Wortbedeutungen innerhalb von Populationen, sonst wäre keine Kommunikation und kein Wissensaustausch möglich. Aber Wortbedeutungen können sich über die Zeit verschieben, sei es durch einen sich wandelnden Gebrauch oder aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Semantik muss demzufolge immer wieder neu justiert werden.

Und ja, die menschliche Sprache in Wort und Schrift ist ein Alleinstellungsmerkmal im Tierreich und viel wirksamer (im Sinne von schneller und weitreichender) als tierische Kommunikation als ererbte Verhaltensweise, weil sie den Erwerb und die Weitergabe von neuem Wissen sowohl zeitlich innerhalb der Lebensspanne eines Individuums als auch in der Breite bzgl. großer Populationen ermöglicht – eine Voraussetzung für planvolles und kooperatives Handeln in (großen) Gruppen und Gesellschaften.

Joachim Oelschlegel am Mittwoch, 21. April 2021:

Liebe Uta, das ist eine phantastische Beschreibung, die ich nur mit anderen Worten schon in meinem aktuellen Buchentwurf zum Begriff „Begriff“ habe. Eine einzige Kritik an: „tierische Kommunikation als ererbte Verhaltensweise“. Darüber habe ich gestern mit Joachim, dem Webseitenbetreiber, an der Müglitz diskutiert und kamen zu einer anderen Aussage, denke ich als Joachim Oelschlegel

Uta am Freitag, 23. April 2021:

Ergänzung „competences without comprehension“

Vielen Dank für das Feedback. Ja, mein letzter Absatz ist in dieser verkürzten Form missverständlich. Daher möchte ich mit dieser Ergänzung versuchen, die meinem Gedankengang zugrunde liegende Metapher von Hard- und Software und den Gründen von Verhaltensweisen näher zu beschreiben. Dazu muss ich aber etwas ausholen.

Mir ging es darum, das Verhältnis – genauer den Entwicklungsprozess – von tierischer und menschlicher Kommunikation in den Kontext eines evolutionären Prozesses einzuordnen. Letztendlich möchte ich auf ein Prinzip verweisen, was Daniel Dennett als „competences without comprehension“ bezeichnet, wodurch wieder Bezug auf das oben genannte Alleinstellungsmerkmal von Sprache zur Kommunikation beim Menschen genommen werden soll.

Evolution beruht auf zufälligen Mutationen und Neukombinationen von genetischem Material. Der Prozess ist zufällig, es gibt kein vorgegebenes Ziel. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann man Evolution als „Design Space“ sehen, d.h. „Design“ im Sinne von Strukturen, Architekturen bzw. Verhaltensmustern codiert in Genen als Begriff für eine mögliche Lösung in einem riesigen Suchraum.

Jedes Design – hier lebende Organismen unterliegen einem Selektionsprozess: Was sich nicht bewährt, d.h. den Umweltbedingungen angepasst ist, stirbt aus; gute und verbesserte Designs werden an die nachkommende Generation über die Gene weitergegeben. In der Regel ein gradueller Verbesserungsprozess, wobei mitunter Innovationssprünge auftreten können, wenn quasi eine „neue Trajektorie im Design Space“ betreten wird.

Der Begriff „competences“ im oben erwähnten Prinzip steht in diesem Zusammenhang für „sich erfolgreich in seiner Umwelt behaupten“; in freier Analogie zu einem Zitat von Albert Einstein „Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich in hier zurechtfinden“. In diesem Sinne können auch sehr einfach aufgebaute Organismen „kompetent“ sein, indem sie angemessen auf Umweltreize reagieren; d.h. nach einem Reiz-Reaktions-Schema entsprechende Prozesse und Aktionen ausführen.

Manche Vögel bauen kunstvolle Nester, ein Termitenbau ist ein komplexes – stabiles, sicheres, mit Belüftungsschächten ausgestattetes Bauwerk – d.h. die Tiere zeigen kompetentes Verhalten, aber sie verstehen nicht, was sie da tun. Alle Organismen, vom Bakterium bis zum Menschen, haben ihr spezielles Design „to deal with affordances“ – sie müssen mit den relevanten „Dingen“ ihrer Umwelt umgehen können.

Was ist dann mit dem Begriff „comprehension“, deutsch Verständnis gemeint? Verständnis beschreibt ebenfalls einen graduellen Prozess. Verständnis ist keine Voraussetzung für „competence“. Im Gegenteil, wir erlangen schrittweise Verständnis über unsere Umwelt, in dem wir durch wiederholte Ausführung und zielgerichtetes Ausprobieren („Übung macht den Meister“ bzw. siehe oben Lernen von Semantik) vertraut werden mit (angeborenen, antrainierten, vorgegebenen) Prozessen und Verhaltensweisen und dadurch Einsichten entwickeln, warum sich ein bestimmtes „Design“ bewährt hat, also gut für einen bestimmten Zweck funktioniert und andere nicht.

Und um den Bogen zurück zu schlagen, will ich hier eine Metapher von Hard- und Software einführen. Welche Prozesse bzw. welches Verhaltensrepertoire von Organismen sind mit der Hardware – dem Design kodiert in den Genen – vorgegeben und welche Aspekte kann ein Individuum (und hier sind auch höher entwickelte Tiere mit gemeint) im Laufe seines Lebens lernen, quasi als Software auf diese Hardware laden und ausführen. Und inwiefern begrenzt das vorgegebene Design den potentiellen Lernprozess?

Das bringt uns zu der Frage nach den Gründen für Prozesse und Verhaltensweisen. Das kann man auf zweierlei Art, d.h. auf zwei verschiedenen Ebenen beantworten: „How come?“ und „What for?”
„How come?“ erklärt einen Prozess, ein Verhalten, ein Phänomen auf seiner physikalischen, biochemischen bzw. physiologischen Grundlage.
„What for?“ dagegen fragt nach der Intension, der Absicht, dem Willen hinter einem Verhalten.

Menschliche Kommunikation durch Sprache hat ganz sicher in erheblichem Maße mit dem zweiten Aspekt zu tun. Mein Punkt oben war also, dass menschliches Denken und Sprache den unschätzbaren Vorteil haben, dass Wissen mit Begriffen, also Abstraktionen in einer Form weitergegeben kann, die Tieren aufgrund ihres Designs (vermutlich) nicht zur Verfügung steht.

Ob und in welchem Grad auch tierische Kommunikation durch Intensionen und Willen getrieben ist, darüber ließe sich ausführlich diskutieren.

Joachim Adolphi am Freitag, 23. April 2021:

Danke, Uta, für die Vertiefung des Fragen-Komplexes. Da Du den „Willen“ eingeführt hast, wirst Du wohl eine Lawine lostreten.

Zuerst zur Selektion: Wir sind uns einig, dass sie zwei Komponenten hat, nämlich durch angeborene (genetische) Differenzierung und durch erworbene (individuell erlernte). Sie wirken durch die Differenzierung bis zur Fortpflanzungsreife und verhindern damit Vererbung untauglicher Eigenschaften in einer bestimmten (aber veränderlichen!) Umwelt. Die Sprache ist eine Verstärkungsmöglichkeit der zweiten Komponente, nämlich die Chance, auch fremde Erfahrung (außer dem tierischen Nachahmungstrieb) lernend zu verwenden. Eine weitere Verstärkungsmöglichkeit wird sich wohl zukünftig durch planmäßige (und dennoch experimentelle!) Genveränderung ergeben.

Nun zum Willen:
Seine tierische Komponente wird jedem selbstkritischen Menschen bewusst, wenn er sich fragt, wie er es anstellt, vom Stuhl aufzustehen. Plant er es fünf Sekunden vorher? Wie verlaufen diese fünf Sekunden? Macht er es nur spontan? Steuert er erst die Quadriceps an, dann die Maximusse, um das Gleichgewicht zu halten, und dann erst die…?
Nein, er triggert einen erlernten Ablauf. Und genau das können auch Tiere.
Kann er triggern, dass er „jetzt“ eine neue Formel zur Lösung eines Problems findet? Nein. Er kann aber vorher erfolgreiche Such-Algorithmen auch auf das neue Problem anzuwenden versuchen. Hier erst setzt die menschliche Abstraktion ein: Das Wiedererkennen einer Problem-Struktur unabhängig vom Problem-Inhalt. Dieses Können ist auch ein Ergebnis des Übens und Lernens, nämlich des methodischen oder prozeduralen. Um auch darüber kommunizieren zu können, bedarf es einer Kunstsprache wie der Mathematik. Diese hat eine klare funktionale Struktur. Und damit entfernen wir uns, obwohl es gerade interessant wird, ein wenig von der Ausgangsfrage des Abschnitts 4.4.4.

Aber zurück zur tierischen Intention. In irgendeiner Form muss ein „Bild“ des Ziels vorhanden sein, bevor die Handlung hin auf dieses Ziel erfolgen kann. Während der Handlung erfolgt ein Soll-Ist-Vergleich des Fortschritts, der auch zum Abbruch führen kann. Die einfachste solche Handlung ist sicher das Suchen. Hier kann man bei unterschiedlichen Tieren unterschiedliche „Muster“ erkennen, die mit Sicherheit selektiv aus der Aufwand-Minimierung entstanden sind. Das Suchen der pendelnd schwebenden Wespen macht uns nervös…

Das Triggern der eigenen Nahrungssuche kann vom Magen erledigt werden. Aber wer triggert die Biene, die Futter für den Nachwuchs ihrer Königin zu suchen hat?

Uta, danke, wir haben noch viel zu tun!

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