Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


4.0.0 Gewissheiten über unsere Umwelt

Kann man verstehen, woher wir unsere Gewissheiten über unsere Umgebung haben?

(Unter „Gewissheit“ ist hier eine Annahme zu verstehen, an der wir nicht zweifeln müssen, solange wir keine Widersprüche zu ihr erleben.)

Am besten, wir lassen mal Sprache und Kommunikation weg, und fragen uns, ob wir als nicht-sprechendes Einzelwesen Gewissheiten erlangen können.

Wir sind also irgendwohinein versetzt und betrachten unsere Umwelt.

Hören und Riechen können wir zwar, aber wir können die Reize dieser Sinne noch nicht zuordnen.

Die Kombination von Sehen und Tasten erlaubt uns eine Vorstellung von Raum, vor allem, wenn Bewegung dabei ist, nämlich Bewegung des Auges UND Bewegung der Hände. So erfahren wir, was „davor“ und „dahinter“ ist, was „nebeneinander“ ist, und dass das „Nebeneinander “ verschiedne Richtung haben kann. (Dass das „Dahinter“ – also die dritte Dimension, die auf der Netzhaut nicht direkt abbildbar ist und im Gehirn entstehen muss – einen ganz besonderen Reiz ausübt, erkannt man an Kleinkindern, deren höchstes Vergnügen das Verstecken und Wiederauftauchen von Gegenständen, Personen und dann vor allem vom Ich für die Wahnehmun der anderen – erstes aktives abstraktes Spiegelungs-Verfahren – ist!)

Wir erleben auch „Bewegung“ als solche, also eine Veränderung eines räumlichen Bezugs.

Hier kommt etwas Neues ins Spiel, nämlich das Tempo der Bewegung. Etwas, was unseren Sinnen nicht direkt gegeben ist, nämlich die Zeit, kommt in unser Empfinden von der Realität der Umwelt hinzu. Man könnte also sagen, dass

„die Zeit die sinnliche Erfahrung der Gerichtetheit einer Veränderung in der Umwelt“

ist, wobei die Veränderung am einfachsten als „Bewegung“ wahrgenommen wird. (Vgl. hierzu die Beaobachtungen an den Krähen in Abschnitt 3.5.1 Flucht der Krähen und Greife)

Das, was für die Physiker ein großes Rätsel ist, ist für das „normale“ Lebewesen, jedenfalls für die höhere Tiere, die Bewegung schon deshalb bewerten können müssen, weil sie sich selbständig bewegen können, eine völlig normale Gegebenheit der Umwelt.

Drei Formen des Erlebens der Zeit treten dabei auf:

Dem physikalischen Verstande des Menschen können dafür die drei grundsätzlichen Proportionalitäten zugeordnet werden, nämlich zwei rückgekoppelte und eine fremdbezügliche:

x(t) = -C2 * d²/dt² (x(t))      (C2 >0, damit „rücktreibend“, periodisch)

x(t) = C1 * d/dt (x(t))            (C1 beliebig, C1>0 wachsend, C1<0 abklingend)

X = C0 * Y                                (C0 als quantitative Zuordnung)

Erst durch diese sinnliche Wahrnehmung der Zeit, die, weil dafür kein Sinnesorgan zur Verfügung steht, an die Existenz eines Gedächtnisses gebunden ist, ist auch das „Lernen“ von Verhaltensmustern möglich. (Ist das Gedächtnis erkrankt, verliert das Tier oder der Mensch den Zeitbezug zur Realität und damit einen wesentlichen Teil des Realitäts-Bezuges überhaupt.)

Die Gliederung der Zeit (das Zuordnen einer Maßeinheit) ist dabei von physiologischen Gegebenheiten abhängig (Beispiel Mensch):

Rhythmische Veränderungen der Umwelt können dann ins Verhältnis zu den „körpereigenen“ Takten gesetzt werden. Die sind bei einer Mücke natürlich andere als bei einem Elefanten…

Nehmen wir die allgemein bekannte Stubenfliege:

Sie ist in der Lage, unseren Handschlägen auszuweichen, weil ihre eigenen Körper-Rhythmen viel schneller als die unsrigen sind (der unterstützende Luftzug durch unsere luftundurchlässige Hand trägt seinen Teil dazu bei). Sie hat entweder keine Veranlassung, ihre Handlungsweise zu ändern, weil sie ja eben schneller ist, oder kein Gedächtnis dafür, dass es in der Nähe unserer Hand gefährlich sein könnte. Sehen wir Insekten beim Flug im Regen zu, müssen wir zu ersterem tendieren. Ein kurzer Überschlag lehrt uns, dass ihre Flügelbewegung mindestens in der Größenordnung der fallenden Tropfen liegt, weshalb sie diesen entweder ausweichen können (Mücken fliegen gern im Regen!) oder sie ignorieren können, weil sie selber deutlich schwerer sind (dicke Hummeln z.B.) oder vom Wasser nur schwer benetzt werden.

Ist also das Kurzzeitgedächtnis einer Mücke in der Größenordnung ihrer Flügelschlag-Taktzeit (Zehntel einer Millisekunde) zu suchen? Das setzte voraus, dass sie jeden einzelnen Flügelschlag steuern könnte, statt eine Schwingung einer bestimmten Frequenz in Gang zu setzen. Die Konstanz ihres hohen Summtons lässt uns zu ersterem tendieren, auch wenn wir wissen, dass unser Gehör über sehr kurze Zeiten die Schallimpuls-Folge mittelt, wie aus statistischen digitalen Tonerkennungs-Versuchen mit dem menschlichen Ohr folgt.

Eines der interessantesten „Muster“ des zeitlichen Verhaltens von Tieren ist dabei das „Aufgeben“ in hoffnungslosen Situationen: Tierverhaltensforscher haben herausgefunden, dass hier eine artabhängige Zeitspanne vorhanden ist, nach der der weitere Aufwand für den Kampf ums Leben als „zu hoch“ eingeschätzt wird, und man sich „mit dem Schicksal einverstanden“ erklärt und aufgibt. (Auch Menschen wissen das über Menschen…) Da das nicht geübt worden sein kann, muss man davon ausgehen, dass es „angeboren“ ist. Es sieht so aus, dass es tatsächlich auf der Schiene „Aufwand und Nutzen“ läuft, die schon bei der Nahrungssuche geübt und eingepegelt worden ist, so dass die Zeit selbst als physikalische Größe nur indirekt vorkommt.

Hier entsteht sofort die neue Frage, ob es auch andere „angeborene“ Verhaltensweisen gibt und auf welche weise sie sich realisieren.

Nehmen wir als Beispiel das Laufenlernen. Experimente zeigen, dass das individuum höherer Tiere das konkrete Laufen unter konkreten Bedingungen durch „Trial and Error“ lernen kann oder nach einer gewissen Zeit auch ohne Üben kann. Das ist ein Hinweis auf die Doppelstrategie der Anpassung:

Genetische Streuung der Individuen untereinander oder Lernprozess des einzelnen Individuums. Zum Lernen sind Rückkopplungen im Verhalten durch Gedächtnis und Selbstkontrolle erforderlich, also ein komplexes Regelungssystem mit Speicher. Die sensoren sind dafür differenzierter, als man anfangs glaubt:

Das Junge der Paarhufer, das kurz nach der Geburt laufen können muss, um mit der Herde den Fressfeinden entfliehen zu können, wackelt in den ersten Minuten noch auf seinen Beinen, aber dann rennt es los. Es ist schwer vorstellbar, dass dafür ein „Bild“ oder sogar „Beispielfilm“ in seinem frischen Gedächtnis vorhanden sein soll. Was man sich aber vorstellen kann, ist, dass reflektorisch auf Signale der Drucksensoren in den Füßen und Bein-Gelenken durch die Muskeln regaiert wird und schrittweise eine Synchronisierung mit dem Gesichtssinn im Gehirn erfolgt. Dabei „lernt“ das System in Windeseile und kann den konkreten Körper nicht nur senkrecht auf den Beinen halten, sondern sogar bewegen. Man darf vermuten, dass die wackligen Anfangsbewegungen sogar der Trigger für diese Synchronisierung sind.

Auf diese Weise sind „Raum“ und „Zeit“ durch ihre erfolgreiche gemeinsame Synchronisierung vermittels der  „Bewegung“ zu Gewissheiten geworden, die erst durch Physiker, die den Erlebnis-Horizont hinter sich lassen wollen, in Frage gestellt werden sollen.

Ganz nebenbei wird übrigens auch die Schwerkraft als etwas selbstverständliches wahrgenommen.

(Die soziale „Prägung“ steht auf einem anderen Blatt, erfolgt aber parallel in den ersten Momenten des „Seins“ und schafft Gewissheiten, die später viel härter auf die Probe gestellt werden sollen als die rein physikalischen.)

Wir haben also erkannt, dass alle zeitlichen „Strukturen“, die wir erkennen, auch mit unseren eigenen zu tun haben und mit ihnen ins Verhältnis gesetzt werden, ob wir das wollen oder nicht. (Je nach Interessenlage und Übung können wir das dann geistig mehr oder weniger abstrahieren.)

Am Ende können wir mit Hilfe des Langzeitgedächtnisses auch Gerüche und Geräusche Dingen zuordnen, die wir im Moment nicht sehen können, uns ihrer Existenzmöglichkeit aber trotzdem „gewiss“ sind.

Wir haben auch eine Gewissheit über die Dimensionalität des uns umgebenden Raumes, weil wir rechts und links, oben und unten und vorn und hinten unterscheiden und in jeder Richtung gegenseitige Verdeckungen aufklären können, also Erfahrungen in drei Dimensionen haben. Ein Regenwurm braucht nur zwei Quasi-Dimensionen: Vorn und hinten sowie außen und innen. Die Schwerkraft-Richtung ist ihm einerlei. Interessant ist dabei, dass die im Wasser schwebenden Tiere ebenfalls beide Typen ausbilden: rotationssymmetrische Quallen einerseits und Fische andererseits.

(Übrigens gehören auch die meisten Pflanzen zu den rotationssymmetrischen Quasi-Zweidimensionern.)

(Wer schon einmal versucht hat, sich eine echt zweidimensionale Welt vorzustellen, wird natürlich über das Problem „einem Hindernis rechts oder links ausweichen?“ gestolpert sein, denn diese Unterscheidung gibt es dort nicht. Man ist deshalb geneigt, einen „zweidimensionalen Raum“ allein in die Welt der Gedankenexperimente oder der physikalischen Modell-Vereinfachungen zu verbannen.)

Kommentare

Joachim Oelschlegel am Mittwoch, 21. April 2021:

Lieber Jochen,
Gratulation zu diesen komplexen Überlegungen. Anbei eine Idee mit Prüfung und Verwurfsmöglichkeit zum weiteren Ausbau.
Wahrnehmung und Reaktion beruht auf Invarianten der Natur (Objektives), die selbst beim Wahrnehmenden Invarianten bildet (Subjektives) und damit sich zweckmäßiges Verhalten entwickeln kann. Ist das Verhalten unzweckmäßig tödlich, ist es aus mit Anpassung.
Könnte das „Invariante“ Deine Überlegungen schärfen?
Anerkennende Grüße von Joachim O.

Kommentar abgeben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert