2.4.3.4 Die „Trachten“ der Kristalle
Unter „Tracht“ versteht man eine Verzerrung der isometrischen (alle gleichwertigen Flächen haben den gleichen Zentralabstand) Form. Am einfachsten ist das am Würfel vorstellbar: Er wird zum Quader. Die Winkel bleiben zwar alle erhalten (und damit der jeweilige Flächentyp), aber die Flächen verändern ihre Form.
Spannender ist das, wenn mehrere Flächentypen gleichzeitig auftauchen und ihre Flächenverhältnisse sich ändern, indem ihre Zentralabstände unterschiedlich variiert werden. Man kann dann zwar jeden Flächentyp für sich isometrisch anordnen, aber zwischen den Typen ändern sich die Abstände. Das wäre so, als ob man von einem exakten Holzwürfel {100} die Ecken {111} oder die Kanten {110} (siehe Kristallografie) oder beides schrittweise abfeilen würde:
Die Zwischenstufen können eigene Bezeichnungen haben wie „regelmäßig abgestumpfter Würfel“ (Kanten an Dreiecken und Achtecken gleich lang, also regelmäßige Achtecke, 3. Bild), „Kuboktaeder (4. Bild, Dreiecke und Quadrate) oder „regelmäßig abgestumpfter Oktaeder“ (5. Bild, Quadrate und Sechsecke).
Solche geometrischen Spielereien kann man rein mathematisch auch übertreiben (zum Beispiel mit dem Anliegen, Zusammenhänge besser verstehen zu lernen), wie zum Beispiel eine kristallografisch unsinnige Veränderung der Dach-Winkel auf einem Würfel herbeizuführen, um zu anderen „echten“ geometrischen oder kristallografischen Formen zu kommen:
Man kann sich sehr viele solche Spiele ausdenken und berechnen, aber die Frage in diesem Abschnitt muss ja eigentlich lauten, woher diese Formen in der Natur kommen und was sie (im Sinne unserer Abhandlung) als Struktur über ihr eigenes Werden verraten können.
Dazu muss man zuerst einmal überlegen, wodurch sich physikochemisch die unterschiedlichen Flächentypen unterscheiden. Wenn man sich die stereochemische Struktur der Elementarzelle des Kristalls vor Augen führt, erkennt man, dass je nach Orientierung eine unterschiedliche „Konzentration“ der Partner und unterschieliche Abstände vorliegen, woraus man mit Sicherheit schließen darf, dass die physikalischen und chemischen Bindungsbedingungen (für Adsorption oder Reaktion) für andere Verbindungen flächenspezifisch ausfallen müssen.
Da in geologischen Raum- und Zeitdimensionen die Bedingungen meist nicht kleinteilig strukturiert sind, wird klar, dass man lagerstättenbedingt andere Verhältnisse vorliegen hatte und also spezifische Kristalltrachten vorfinden kann. Beim Pyrit ist das sehr eindrucksvoll, dass man spanische, sizilianische, peruanische, tansanische und auch deutsche (div. Stellen im Erzgebirge oder bei Lemgo z.B.) Kristalle mit etwas Übung auf den ersten Blick erkennen kann (allerdings nicht nur an der Tracht an sich, sondern auch am Glanz, an Zwillingsbildung oder an einer Lamellierung oder an Mosaiken auf der Oberfläche).
Pyrit (FeS2) gehört zum kubischen Kristallsystem, bricht dort aber die volle Symmerie durch die schrägstehenden Schwefel-Hanteln zur kubisch-disdodekaedrischen Klasse (4-zählige Achse durch die Flächenmitte wird 2-zählig) und ist somit dafür prädestiniert, hochspannende Trachten entwickeln zu können. Eine schrittweise Entwicklung der Elementarzelle (4 Formeleinheiten: 8 Eisen-Ecken für je 8 Würfel und 6 Eisen-Flächenmitten für jeweils 2 Würfel: 8/8+6/2=4) von der AB-Struktur über „unmögliche“ AB2-Strukturen (ungleiche Schwefel-Abstände) zur „echten“ AB2-Struktur mit meinem 3D-Programm zeigt das deutlich (Bildschirm-Einstellungen zur Größenkorrektur der Abbildungen eventuell ändern oder auf ein Bild klicken und Galeriebilder einzeln ansehen, um 3D-Effekt zu optimieren):
Bevor wir also zu den konkreten makroskopischen „Strukturen“ der Kristall-Tracht kommen können, haben wir uns also (mehr philosophisch als mathematisch) die Elementarzellen-„Struktur“ als diskreten Sonderfall eines hypothetischen Kontinuums erarbeiten können, indem die einzige Zusatzbedingung der gleichwertigen Abstände das Kontinuum aufgehoben hat: Aus einem analogen oder stetigen Lösungsraum wurde ein diskreter mit einer einzigen Lösung.
Hier ein paar konkrete Trachten nach Fundstellen:
Hier im OEG ist die Zwillings-Streifung stärker, die Kissenform aber die gleiche!
Auch hier gilt also unser Satz:
Die „Struktur“ (allgemeine Form-Parameter und Oberflächen-Zustand) ist kein Zufall. Sie zeugt von den (in der geologischen Umgebung oder im Labor vorliegenden) Entstehungsbedingungen und ist somit für den Kenner ein Hinweis auf die Herkunft.
Was hier für den Pyrit gesagt worden ist, gilt auch für andere Mineralien und sogar auch für Gold, wenn man die Isotopen-Zusammensetzung ebenfalls zu den (zugegebnermaßen abstrakten) Strukturparametern zählen will (recherchiere beispielhaft die Herkunftsanalyse der Goldauflagen auf der Himmelsscheibe von Nebra!).
(Weitere Kristalle findet man auch dort!)
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