4.3.1.2 Musik-Strukturelement 2: Tonhöhe als Melodie und Harmonie
(letzte Änderung: 21.06.2022)
Musik kann auch aus Geräuschen ohne erkennbare Tonhöhe bestehen und wird auch als Musik anerkannt, wenn es ein reines Rhythmus-Geschehen mit entsprechenden Instrumenten ist: Rasseln, Klappern, Blechtöpfe usw. usf. Damit kann man wunderbare Effekte über die Lautstärke und den geschachtelten Zeitablauf sowie über das Wechselspiel der Teilnehmer erreichen. (Vergleiche Strukturelement 1!)
Hier aber geht es um die Tonhöhe und um das Zusammenspiel der Töne.
Wir haben ein „natürliches“ Gefühl für Wohlklang und Missklang, also für die Struktur des Zusammenklangs. Wo kommt das her?
Die Physik weiß Rat: Alle natürlichen Schwinger bewegen sich um ein elastisches Gleichgewicht und sind aus mathematischer Sicht (bei kleinen Auslenkungen, bevor es also „klirrt“) harmonische Schwinger (siehe „Schwingung“ in den Grundlagen).
Schwingende Saiten und Luftsäulen können sich in ganzzahligen Vielfachen ihrer Grundschwingungsfrequenz bewegen. Das „könnten“ sie nicht nur, sondern tun das auch gleichzeitig, wobei je nach Bauart die Energieverteilung auf die unterschiedlichen Frequenzen unterschiedlich ist. Man nennt die Frequenzen ab dem Zeifachen „Obertöne“.
Wenn nun die Grundschwingung eines zweiten Schwingers in der Frequenz eines Obertones des ersten Schwingers liegt, so empfindet man das als „harmonischen“ Zusammenklang.
Das klingt sehr theoretisch und muss also praktisch unterlegt werden. Der Beweis kann durch Experimente zur Resonanz erfolgen.
Nehmen wir also am besten das, was den meisten zur polyphonen (mehrstimmigen) Nutzung zur Verfügung steht, ein Instrument mit Klaviatur, und da am besten ein Klavier selbst.
Ich drücke die Taste des c“ langsam herunter, ohne dass ein Ton erzeugt wird und halte sie. Dann schlage ich das c‘ laut und kurz an und lasse also sofort wieder los. Danach klingt das c“ noch eine ganz Weile mit.
Ich erweitere diese Übung mit anderen Tönen und stelle fest, dass auch das g“, das e“ und sogar auch das c'“ leise klingen können.
Die Lösung dieses Rätsels liegt in der Anpassung unserer Tonleiter an die Physik der Schwingung und an die unbewusste Ästhetik der Harmonie, die diesen physikalischen Hintergund hat.
In linearer (Handskizze natürlich etwas ungenau) Darstellung sieht das für die Oktave und die Quinte so aus:
Man sieht, dass die Quinte g‘ als erster „neuer“ Ton erst im zweiten Oberton (3-fache Fraquenz) von den Obertönen der Prime c‘ abweicht, und hätten wir die echte Oberton-Quinte von c‘ genommen, nämlich g“, dann hätte es überhaupt keine einzige Abweichung geben können, weil die Obertöne eines Obertons natürlich aus der gleichen Obertonreihe stammen müssen. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass beim Faktor 1,5/1 in der Grundfrequenz natürlich alle ganzzahligen Erweiterungen dieses Bruches zusammenfallen: 3/2 (g“), 6/4 (g'“), 9/6 (d““) usw. usf.
Das Spiel kann man auch mit der Terz („große Terz“) machen: Faktor 1,25/1 ergibt 5/4 (e'“), 10/8 (e““) usw. usf.
Alle drei Töne zusammen sind der Dur-Dreiklang mit einer Fülle von Obertonresonanzen.
Auf einer Klaviatur sind die Tonhöhen logarithmisch (am leichtesten einsichtig zur Basis 2) gestaucht, jede Oktave (Verhältnis 2/1) hat den gleichen Abstand, jede Quinte natürlich auch usw. usf.
Bei Saiteninstrumenten mit veränderlicher freischwingender Länge (bei gegebener Spannung) sind die Verkürzungsschritte für die Saite nicht gleich lang, denn jede Oktave heißt Halbierung der Länge, jede Sekunde unterscheidet sich von der anderen. Das heißt üben, üben und nochmals üben, falls keine Bünde wie bei der Gitarre vorgegeben sind. Das gleiche gilt für die Posaune und erst recht für die singende Säge oder die Maultrommel oder einfach das Pfeifen mit dem Mund.
Okay.
Physikalisch kann man zwar erklären, warum das Intervall „Oktave“ (2:1) am „harmonischsten“ klingen muss, nicht aber, warum man das als „wiederholenden Gleichklang“ empfindet, wenn ein Melodiestück eine Oktave höher gesungen wird, warum man das c“ als gleichen (nicht „identischen“!) Ton wie c‘ empfindet (und auch so benennt). Man empfindet also auch die Tonleiter auf dem achten Ton als „abgschlossen“. Das muss psychologische Gründe haben. Vielleicht liegt es ja an den ungefähr eine Oktave unterschiedlichen Stimmlagen von Mann und Frau? Wenn sie gemeinsam singen, können sie das „einstimmig“ tun, obwohl sie eine Oktave auseinander liegen.
Nehmen wir es als psychologisch gegebenen „Fakt“, dass die Oktave eine Quasi-Identität ist, und dass wir dieselbe in eine Folge von sieben Schritten unterteilen können, deren zwei betonte den physikalisch und physiologisch gegebenen Dreiklang enthalten, so ist ein überschaubares „Gebäude“ von Tönen entstanden, das nur endlich viele Beziehungen untereinander zulässt.
Will man alle Beziehungen untereinander weiter vereinfachen, so verlangt man, dass alle Ganztonschritte ein gleiches Verhältnis haben, was irgendwo zwischen der ersten (9:8) und der zweiten physikalischen Sekunde (10:9) liegen muss, um die Terz (10:9 * 9:8 = 10:8 = 5:4) zu erreichen, die aber wiederum anders sein muss, damit 3 ihrer Zahl eine Oktave (2:1) ergeben. Man sieht schon, wir kommen um die Wurzeln als Umkehrung der Potenz nicht herum:
Wenn eine Oktave aus 6 Ganztonschritten besteht (5 Ganztöne c-d, d-e, f-g, g-a, a-h und zwei Halbtöne e-f und h-c‘), so muss jeder gleich der 6. Wurzel aus 2 sein, was etwa 1,1225 ist statt 9:8=1,2500 oder 10:9=1,1111. Die (große) Terz ergibt sich dann zu 1,2599 statt 5:4 = 1,2500, die Quinte zu 1,4983 statt 3:2=1,5000 usw. usf. Dass nur so ein sich schließender Quintenzirkel (12 Quinten gleich 7 Oktaven oder 3/2 hoch 12 = 129,746 stimmt NICHT mit 2 hoch 7 = 128 überein, aber (((2 hoch 1/12) hoch 7) hoch 12) = 2 hoch 7 ist durch Kürzen der zusammengefassten Exponenten leicht nachzuvollziehen, wenn die Quinte als aus 7 Halbtönen zu je 2 hoch (1/12) (12. Wurzel der Oktave) aufgebaut gedacht wird) entstehen kann, führt zur Idee des „wohltemperierten Klaviers“ als Gegensatz zu den harmonisch unterschiedlichen Kirchentonarten. (War schon Pythagoras bekannt, weshalb die Abweichung in der Stimmung „Pythagoreisches Komma“ genannt wird.) (Siehe auch dort!)
Ist der wohltemperierte Quintenzirkel erst einmal eingerichtet, ist das harmonische Gebäude überschaubar. Eine „Melodie“ ist dann einfach ein zeitlicher Spaziergang auf der Tonleiter, die Harmonie zwischen Tönen „nur“ noch ein Beziehungsgeflecht in der vorgegebenen STRUKTUR des harmonischen Gebäudes aus den Tonleitern (in Dur und in den Moll-Arten sowie chromatisch) und aus den Tonarten (Dur und parallel Moll).
Woher kommt es aber, dass die eigentlich klare „STRUKTUR des harmonischen Gebäudes“ als „nach oben offen“ erscheint?
Wäre diese Struktur nur durch den „Abstand“ der Töne voneinander gegeben, hätten wir ein lineares Gebilde als „Gebäude“. Nun aber kommt es „dicke“: Wir können jeden Ton der Tonleiter „harmonisch umdeuten“ („enharmonisch verwechseln“). Das macht man (hier kommt wieder die Psychologie ins Spiel!) schon von allein bei einfachsten Volks- oder Kinderliedern, wenn man sie durch eine zweite Stimme untermalt, ganz automatisch richtig, was auf einen kulturellen Hintergrund verweist: Man „fühlt“ zwischenzeitlich einen anderen aktuellen „Grundton“ für die Begleitung, als es der Grundton der gesamten Strophe ist.
Beispiel:
Starten wir „Hänschen klein“ mit dem g‘ als Qunite zum globalen Grundton c‘, so können wir auf den ersten drei Silben des Liedes das c‘ zu dem g‘-e‘-e‘ der Melodie summen. Dann kommt f‘-d‘-d‘ in der Melodie, und das c‘ als Summton klänge sehr gewollt schräg. Singen wir aber nach Gefühl ein g in der Oktave darunter als lokalen oder aktuellen Grundton hinzu, so klingt es für unser Gefühl „harmonisch“. Das zwischenzeitliche G-Dur zum C-Dur („Tonika“) des Liedes nennt man „Dominante“. Man kann ausprobieren, dass das auch für die Takte 6, 9, 10 und 14 vernünftig wäre. (Auf der Gitarre würde man das alles also mit nur zwei verschiedenen Griffen begleiten können.)
Die benachbarte Quinte der Grundtonart als physikalisch engste Verwandte ist also auch vom harmonischen Gefühl her am engsten verwandt. Zu ihr passen dann die Töne, die außerhalb des Dreiklangs der Grundtonart auf der Tonleiter liegen.
Es gibt zwei benachbarte Quinten zu jeder Grundtonart. Was ist mit der zweiten? Zu C-Dur wäre das F-Dur („Subdominante“). Kann man nun die einzelnen Töne der C-Dur-Tonleiter den Dreiklängen der drei benachbarten Tonarten zuordnen?
c: C-Dur Prime
d: G-Dur Quinte
e: C-Dur Terz
f: F-Dur Prime oder G-Dur Septime („Dominant-Sept-Akkord“)
g: C-Dur Quinte oder G-Dur Prime
a: F-Dur Terz
h: G-Dur Terz
c‘: C-Dur Oktave=Prime
Alle drei (Tonika, Dominante und Subdominante) kommen in den „Entchen“ vor:
Und noch etwas macht nur die Psychologie, nicht die Physik:
Wir können einige Töne als nach „Auflösung“ verlangend empfinden und nennen sie „Leittöne“ (nicht Leid-Töne!), weil sie emotional eine harmonische Überleitung zu einem Ton eines Dreiklangs ermöglichen. (Das gibt es natürlich am besten in einer Kunstform mit gegebenem Zeitablauf.)
ABER Achtung:
Das ist ein Spiel. Es könnte auch anders weiter gehen. Hier spielt die Erwartung eine goße Rolle, und die ist im allgemeinen sowohl kulturell als auch persönlich strukturiert (siehe dort) und außerdem im besonderen auf Wiederholung des Bekannten fixiert.
Ich kann „alle meine Entchen“ auch mal ganz anders schreiben.
Beispiel 1:
Statt c-d-e-f-g–g– könnte ich auch das e als Leitton zur Subdominante nehmen c-d-e-e-f–f– und die zweite Takthälfte mit F-Dur begleiten.
Beispiel 2:
Statt c-d-e-f-g–g– könnte ich auch das e als Grunton der Terzverwandten nehmen: c-d-e-d-e–e– und die zweite Takthälfte mit E7 als weitere Überleitung zu A-Dur oder a-Moll begleiten.
Das soll hier genügen. Da jeder Ton umdeutbar ist, liegt eine fast unendlich erscheinende Fortsetzungsmöglichkeit der Musik ständig „in der Luft“ und macht das Wechselspiel zwischen Interpret und Hörer einerseits so spannend und andererseits so empfindlich, denn der „Faden“, an dem wir uns geistig und emotional durchs Harmonie-Gebäude bewegen, kann leicht reißen. Dieser Riss ist geistig vielleicht nicht so schlimm, wird emotional aber meist negativ belegt.
Interessanterweise ist die Länge dieses Fadens im Harmoniegebäude mit unserem Kurzzeitgedächtnis verknüpft, so dass wir bei längeren Stücken durchaus gewillt sind, zwischenzeitlich eine neue „Grundtonart“ zu akzeptieren, nur um den „Boden unter den Harmonie-Füßen“nicht zu verlieren, als den „Kompass“ im Harmonie-Gebäude.
Besonders schöne enharmonische Leitton-Grundton-Verwechslungen gibt es manchmal in Schlagern (üblich bei der chromatischen Modulation von Strophe zu Strophe) als auch in der klassischen Musik.
Bei den Schlagern war ich Kind ganz stolz, als es mir zum ersten Mal gelungen war, nach Gehör die chromatische Aufwärtsmodulation in zwei Schritten auf dem Klavier nachzuspielen:
Der Grundton am Schluss des Schlagers (zum Beispiel c‘ in C-Dur) blieb stehen und wurde zur großen Terz der neuen Dominante (c‘ in As-Dur), die in des‘ als Grundton der neuen Tonika Des-Dur aufgelöst wird. Die darunter liegende C-Dur Quinte g wurde „gesplittet“ (wie im ersten Satz von Bruckners 9. Sinfonie der Grundton d von d-Moll in des und es, um nach diesem Dominantseptakkord-Teil die Melodie dann strahlend aufsteigen zu lassen) in ges (Dominant-Septime verstärkt den Dominant-Charakter des Akkordes) und as (Dominant-Grundton), das e‘ aus C-Dur wurde wohlweislich weggelassen. Und schon ging es mit der nächsten Strophe in Des-Dur weiter. Das konnte für jede folgende Strophe wiederholt werden, nun natürlich auf der neuen Stufe der chromatischen Tomleiter.
Scheinbar ganz ähnlich, aber viel einfacher und dennoch mit Pfiff läuft eine andere Modulation über einen chromatischen Gedanken:
Geht man wieder von c‘ aus, diesmal aber als Septime des Dominantseptakkordes und nimmt die Terz (fis) hinzu, so kann man das c‘ zu h als Terz der Tonika auflösen, aber, und das ist der Witz, dann verschiebt man das fis nicht auflösend zu g, sondern zu f, was sofort als neue Septime eines neuen Domninantseptakkordes auffassbar ist, so dass man wieder Terz und Septime erhält, aber in einer Umkehrung von „oben“ und „unten“. Diesen „Tritonus“ kann man nun chromatisch wandern lassen, während man den gesamten Quintenzirkel ordentlich schrittweise durchläuft.
Die Spielereien im harmonischen Gebäude kann man also oft geometrisch unschreiben: gesplittet, gespiegelt, gekreuzt, parallel, gegenläufig usw. usf.
Die Umdeutbarkeit (gleichzeitige Zugehörigkeit zu unterschiedlichen harmonischen Bezügen) der Beziehungen zwischen den Tönen macht Musik erst wirklich zu einer Kunstform, nämlich zu einem Spiel mit Melodie und Harmonie (im rhythmischen Zeitablauf).
Vielleicht macht das die Harmonie zum wesentlichen Strukturelement der Musik?
(Siehe auch dort!)
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