Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


2.8.4.3 Beispiel: Lagrange-Punkte des Erde-Sonne-Systems

Mit welchem Aufwand kann man die Lagrange-Punkte selber berechnen?

In den Lagrange-Punkten 1 und 2 des Systems Sonne-Erde sind günstige Bedingungen für die konstante Beobachtung der Erde gegeben, im L1 zum Beispiel für die Schatten der Sonnenfinsternisse auf der Erde:

Sonnenfinsternis über der Antarktis am 04.12.2021 (Bild vom Deep Space Climate Observatory, stationiert im L1 (DSCOVR)), etwa 1,5 Mio km in Richtung Sonne von uns entfernt aufgenommen, also fast viermal so weit entfernt wie der Mond, dieser aber leider als „Vollmond“ (von der Sonde aus, denn bei uns war Neumond!) nicht mit auf dem Foto. (https://www.wetteronline.de/wetterticker/9eb33230-2f5b-48c2-8e5d-4565738fdfa3 vom 17.12.2021)

Wieso ist der Lagrange-Punkt genau dort?

Die Darstellung in einem mitrotierenden Potential wurde schon in 2.8.4 und 2.8.4.1 gezeigt. In lokalen Extrema und Sattelpunkten heben sich alle („statischen“) Kräfte auf (gilt also nicht für die Corioliskraft!).

Im rotierenden Bezugssystem kann man also unter der Benutzung der Scheinkraft „Zentrifugalkraft“ schreiben:

Fgesamt = F(Sonne) + F(Erde) + F(Zentrifugal) =! 0,

um den Radius als Abstand vom Schwerpunkt (der im System Sonne-Erde im Inneren der Sonne liegt) zu berechnen.

Die beiden ersten Kräfte sind gravitative und gehorchen dem Gravitationsgesetz, die dritte ist die Kraft der Radialbeschleunigung.

-G*MS*m/r² + G*ME*m*(r2-r)/|r2-r|³ + m*w²*r = 0

(MS ist die Sonnenmasse, ME die Erdmasse, die Probemasse m kürzt sich raus. Der Bruch im 2. Term soll unterscheiden lassen, ob man sich zwischen Sonne und Erde oder außerhalb befindet.)

Diese Gleichung ist nicht einfach zu lösen.

Mit dem Newton-Verfahren (gestartet neben den grafischen Nullstellen und relativ schnell konvergierend) kommt man in EXCEL schnell auf beide Lösungen (Kraftgleichung hier zur Vereinfachung mit r²/m von F zu „FF“ multipliziert):

r1; r2 = 148,11 ; 151,11 Mio km (Erdbahn mit 149,6 Mio km angesetzt, also je 1,5 Mio km „vor“ und „hinter“ der Erde, genauer 1,49 Mio km „vor“ und 1,51, Mio km „hinter“ der Erde.)

Die grafische Lösung (Nullstellen der Kraft-Kurve) sieht so aus:

Macht man das gleiche mit dem System Erde-Mond, kommt auf die Lösungen:

r1; r2 = 0,326 ; 0,448 Mio km (Mondbahn mit 0,384 Mio km angesetzt, also 58 Tkm vor und 64 Tkm hinter dem Mond)

Für L3 kann man eine ähnliche Rechnung aufbauen, für L4 und L5 sind in den vorangegangenen Abschnitten schon die Hinweise gegeben.

Noch Fragen? Einfach in den Kommentaren aufschreiben!

 

Kommentare

Jochen Pellatz am Freitag, 1. März 2024:

Hallo Joachim,
ich fand alles schön erklärt und nachvollziehbar und bin immer wieder begeister, wie weit man mit der Schulmathematik kommen kann. Ich habe allerdings nicht viel Ahnung von Physik und habe nicht ganz verstanden, wie die Zentrifugalkraft in die Rechnung eingeflossen ist. Mit dem Zusatz m*w²*r kann ich nichts anfangen, da ich nicht weiß, was w ist und wie groß m ist.
Ich würde die Formel m*v²/r verwenden. Allerdings ist mir unklar, welcher Wert für m genommen wird.
Ohne Berücksichtigung der Radialbeschleunigung kann man die Gleichung ja einfach über eine quadratische Gleichung lösen und kommt auf einen Lagrange-Punkt, der sich etwa 260 000 km von der Erde befindet.
Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir etwas ‚Nachhilfe‘ geben würden.
Viele Grüße
Jochen Pellatz

Joachim Adolphi am Sonntag, 3. März 2024:

Lieber Jochen,
über Ihren Beitrag habe ich mich sehr gefreut. Wenn ein Mathe-Lehrer sagt, er habe nicht viel Ahnung von Physik, deren Hauptwerkzeug ja die Mathematik ist, so ist das ein perfekter Ausgangspunkt für eine erweiterte allgemeine Erläuterung, denn man muss ganz schön klug und ganz schön ehrlich sein, um das erkennen zu können.
In der Physik treten meist Probleme auf, die auf dem gleichzeitigen Wirken mehrerer Zusammenhänge beruhen. Das schränkt die Allgemeinheit der Lösungen jedes Einzelzusammenhangs ein, im extremen Fall wird aus einer stetigen Lösungsmenge eine Gruppe diskreter Lösungen (in der Mathematik vielleicht der Schnittpunkt zweier Geraden oder dreier Parabeln oder verallgemeinert „Eigenwertprobleme“…)
Bei den Lagrange-„Punkten“ handelt es sich um Punkte im rotierenden Bezugssystem (dessen Behandlung ist ausführlich unter 2.8.4.1 Rotierendes Bezugssystem dargelegt). Bestimmende Größe dieses Bezugssystems ist neben der Lage des Ursprungs seine Winkelgeschwindigkeit (Kurzsymbol griechisch omega) ω=dϕ/dt (mit ϕ als Drehwinkel im Bogenmaß). Eine gravitative Kreisbahn im kartesischen System wird dann dort zum Punkt, wenn die Winkelgeschwindigkeit ω (auf meiner WordPress-Seite faul als „w“ bezeichnet) genau jener entspricht, die aus dem Gravitationsgesetz für diesen Abstand r folgt. Dabei ist ω=vt/r mit vt als Tangentialgeschwindigkeit und r als Radius oder v = ω x r vektoriell. (Damit ist F = m*ω²r = m*v²/r erklärt.)
Die Kreisbahn ist also im rotierenden System idealerweise ein Punkt, die gravitative (!!) Ellipsenbahn (also eine mit ortsabhängig ständig veränderter Geschwindigkeit!!) wird dort zur „Bohne“ (2.8.4) um diesen Punkt.
Die Fragestellung, die zu den Lagrange-Punkten führt, lautet: Gibt es Orte im Raum eines Zwei-Körper-Problems , in denen eine (dritte!) kleine Probe-Masse eine stabile Kreisbahn gleicher Winkelgeschwindigkeit ausführen würde wie der Vergleichsplanet? Dabei ist stillschweigend davon ausgegangen worden, dass der Planet klein gegen die Zentralmasse und die Probemasse klein gegen den Planeten ist, damit der Masseschwerpunkt für alle drei und auch die drei dreimal paarweise näherungsweise erhalten bleiben.
Da wegen der Gleichheit der trägen mit der gravitativen Masse sich für die Kreisbahn eines Planeten beide gegenseitig aufheben, ist ihr Betrag für die Winkelgeschwindigkeit oder Umlaufzeit oder Geschwindigkeit unerheblich (unterschiedlich schwere Satelliten haben in gleicher Höhe über der Erde die gleiche Umlaufzeit). Jeder andere Ort auf dieser Kreisbahn ergäbe also die gleiche Winkelgeschwindigkeit, weil ja überall der gleiche Radius gilt.
-G*MS*m/r² + G*ME*m*(r2-r)/|r2-r|³ + m*w²*r = 0 (Nach Division durch m≠0 ist m völlig weg und es bleiben ME für die Erde und MS für die Sonne übrig!)
Da es jetzt aber ein Dreikörperpoblem ist, müssen wir weitere Kräftepaare ansetzen.
Es gibt einfach aus der Anschauung heraus die Chance, einen Punkt auf dem Radius Erde-Mond (oder Erde-Sonne) zu finden, in dem die Summe der Kräfte von Erde und Mond (oder Erde und Sonne) genau jene Kraft ergibt, die erforderlich ist, um trotz anderen Abstands zur Sonne (oder zur Erde) die gleiche Winkelgeschwindigkeit auf einer Kreisbahn zu erzeugen und damit einen „Punkt“ im rotierenden Bezugssystem festzulegen. Das kann sowohl außerhalb der Mondbahn oder Erdbhan (Addition der Kraftbeträge) als auch innerhalb (Subtraktion der Kraftbeträge) der Fall sein. Damit wäre zweimal die notwendige Bedingung für einen Lagrange-Punkt erfüllt (der dritte Punkt auf diesem Radius wäre gegenüber vom Mond (oder Erde) leicht außerhalb der Mond(Erd)bahn!). Die hinreichende wäre allerdings die Stabilität dieser Positionen, die ja im Potentialfeld lediglich labil sind. Diese wird physikalisch durch die Existenz einer rücktreibenden Kraft bei infinitesimaler Abweichung vom Gleichgewicht beschrieben. Dies rücktreibende Kraft ist hier keine Potentialkraft, sondern eine Zwangskraft im rotierednen System,. Die Corioliskraft. Sie ergibt streng determiniert eine für das menschliche Gewöhnungsauge „chaotische“ Bahn (vergleiche Mehrfachpendel!) um den Lagrange-Punkt (auch hier ein Kreuzprodukt, und zwar von Geschwindigkeit und Winkelgeschwindigkeit, also senkrecht auf der Geschwindigkeit stehend und somit immer seitlich ablenkend wirkend, ohne den Geschwindigkeitsbetrag zu verändern).
Die weiteren Lagrangepunkte liegen nicht auf dem Radius, sondern beinahe auf der Kreisbahn des Planeten. Sie sind im Potentialfeld ebenso als „labile“ Gleichgewichte zu erkennen. Ausführlich ist das unter 2.8.4 Trajektorien um nicht rotationssymmetrische Konstellationen abgehandelt. Da sind auch anschauliche Potentialfelder mit EXCEL und VBA dargestellt, angefangen mit dem einfacheren symmetrischen Doppelstern.
Ich hoffe, dass damit die Unklarheiten beseitigt sind und die zahlenmäßigen Unterschiede unserer Lösungen aufgeklärt sind.
Liebe Grüße und nochmals herzlichen Dank für die Nachfrage!
Joachim

Joachim Adolphi am Sonntag, 3. März 2024:

Lieber Jochen,

Deine Rechnung hatte natürlich auch einen physikalischen Hintergrund, aber der errechnete Punkt auf der Verbindungslinie Sonne-Erde ist der mit verschwindender Gesamt-Gravitationskraft („abarischer“ Punkt). Ein Objekt in diesem Punkt würde also nicht beschleunigt werden und sich somit geradlinig gleichförmig bewegen. Da sich aber die Erde im heliozentrischen System weiter auf ihrer Kreisbahn bewegt, würde diese Bedingung sofort aufgehoben sein, es sei denn, jemand würde dieses Objekt auf eine Kreisbahn etwa 259.000 km unterhalb der Erde (das ist die physikalisch sinnvolle der beiden Lösungen der von Dir verwendeten quadratischen Gleichung) mit der gleichen Winkelgeschwindigkeit wie die der Erde zwingen. Dafür wäre aber eine Kraft erforderlich…

(Kleine Knobel-Aufgabe: Wieso bleibt dann der Mond bei der Erde, wo sein Abstand doch mehr als 259.000 km ist?)

(Das gleiche passiert auf der Reise zum Mond, dass man irgendwann in den Bereich kommt, wo die Anziehungskraft des Mondes größer als die der Erde wird, etwa bei 90% des Abstands…)

Im Lagrangepunkt soll also die Zusatzbedingung gleicher Winkelgeschwindigkeit erfüllt sein, so dass man alle (kleinen) Körper, die sich in diesen befinden, zusammen mit Erde und Sonne wie ein rotierendes starres System betrachten kann. In den Punkten L4 und L5 sind tatsächlich schon Begleiter der Erde gefunden worden, die dort offenbar schon lange verweilen. Sie bilden als „Trojaner“ mit der Erde einen „Mini-Mini-Ring“ um die Sonne.

Die Gleichungen für die Lagrange-Punkte sind also tatsächlich nicht mehr wie eine quadratische zu behandeln, da sie durch den Zusatzterm schwieriger geworden sind. Für meine Ansprüche war das Newton-Verfahren hinreichend.

Tschüs.

Joachim

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