Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


G10 Komponieren: Bewusstes Ausnutzen der Harmonie-Folgen

Oft gehen einem Melodien durch den Kopf, die man noch nie gehört hat, mit denen man spielerisch variierend umgehen kann, bis sie sich festigen, so dass man sie auch aufschreiben kann. Wie große dabei der bewusste Anteil ist, ist wohl von Mensch zu Mensch verschieden. Es ist wie beim Briefschreiben: Man kann ja unter verschiedenen Aspekten korrigierend eingreifen, und genau das in einem Schreibprogramm viel besser als mit Hand und Stift auf Papier. So ist es auch mit den Noten: Ein Schreibprogramm nimmt etwas von dem Stress, der von der Angst vor Fehlern kommt.

Ein paar Übungen, die vom Verstand begleitet werden, können die Gedanken ordnen und somit die Arbeit bewusster gestalten und damit erleichtern (der Grad trivialer Beliebigkeit wird damit verringert).

Die Spannung zwischen Erwartung (ständig mitlaufendem Erwartungsbaum) und Erfüllung (tatsächlichem Fortgang), die aus bestimmten Akkordfolgen stammt, haben wir weiter oben behandelt. Auch, dass man dabei Haupt- und Durchgangstöne bewusst bezüglich des Rhythmusses setzen kann.

Hier in diesem Abschnitt seien ein paar einführende „klassische“ Beispiele angeführt, bevor wir selber kreativ werden.

Vorab aber eine SEHR WICHTIGE Bemerkung: Wie im Fußball beim Doppelpass, so kann man auch in der Musik mehrere Schritte vorausdenken und vorausfühlen (das geht in Millisekunden automatisch, jenach Erfahrung): Man kann eine mehrschrittige zeitliche Auflösung einer Spannung („Dissonanz“) genauso als eine von vielen möglichen Varianten sehen wir schon die mehrfach mögliche Umdeutung eines Ton-Bezuges im selben Augenblick. Damit wird – rein physikalisch oder logisch gesprochen – der Zusammenhang zweidimensional: zeitlich und „räumlich“ (Jeder Mensch hat seine eigene „räumliche“ Vorstellung der Stapelung der Töne: als Leiter, als Tastatur, als Gitarrenhalsbünde, die er mit den gesehehen oder gedachten Noten oder Intervallen in Zusammenhang bringen kann und muss. Der Zeitablauf aber ist bei allen gleich…)

A) Der Vorhalt

Schon bei Bach und vor allem bei Mozart begegnet uns ein „Vorhalt“, also ein zeitlich oder harmonisch vorgezogener Ton eines eigentlich erst später aus harmonischen Gründen folgenden einfachen Akkordes, relativ oft. In der Neuzeit können wir einen Titel heranziehen, in dem ein schöner Wechsel von Vorhalttönen und Vorhalt-Akkorden mit Haupttönen und einfachen Akkorden erfolgt: „Yesterday“ von den Beatles zum Beispiel.

Schon der erste Ton des ersten Taktes der Strophe (eine Intro lassen wir mal weg) ist als Sekunde ein Vorhalt zur Prime der Tonika (hätte, mal so als Verzweigung gedacht, auch zur Terz gehen können!), die dann tatsächlich folgt und im ganzen Takt beibehalten wird. Das schafft eine grundsätzliche Spannung, die dafür sorgt, dass wir die Melodie-Pause im ersten Viertel des zweiten Taktes dafür nutzen können, den Verzweigungsbaum unserer Melodie- und Harmonieerwartung auszukosten, weil der Bass in dieser melodie-Pause von F (Grundton der Tonika) einen Halbton zum E nach unten wandert. Das könnte die Terz der Dominante C sein, die Quinte der Terzverwandten A (als Dominante zur parallelen Molltonart d-Moll) oder sogar die Prime der Dominante E zur Terzverwandten A!

Die „Realität“ des Titels beendet die Offenheit des verzweigten Erwartungsbaums, indem der Melodie-Sprung auf die Terz der Tonika durch die Begleitung und durch die Achtel-Ganzton-Fortführung der Melodie sowie ihre Betonung auf den Vierteln tatsächlich über A-Dur zu d-Moll geführt wird. Dabei erleben wir wieder Vorhalte, nämlich das a auf dem zweiten Viertel als Quartvorhalt in e-Moll, das e-Moll selbst als Zusatz-Vorhalt der neuen Tonika A (deren Terz Cis auf dem betonten dritten Viertel der Melodie liegt und der Leitton – und der ist ja in gewissem Sinne auch ein Vorhalt zu seiner Auflösung! – zu d-Moll ist), die selbst zur Dominante der neuen Tonika d-Moll geworden ist.

Nun wandert im letzten Viertel des dritten Taktes der Bass von D nach C und lässt damit wieder neue Verzweigungsmöglichkeiten auffächern (selber essen macht fett…! Finde also selber weitere Verzweigungsmöglichkeiten im Verlaufe des Titels „Yesterday“!).

(weitere kompositorische Gedanken findest du direkt dort!)

Spiele improvisierend auf deinem Lieblingsinstrument (es muss ja nicht immer die Gitarre sein!) verschiedene Vorhalt-Situationen durch, melodisch oder harmonisch und studiere die unterschiedlichen harmonischen Schreibweisen in der Titel-Literatur dazu (oft wird der E-Bass-Gang mitgedacht und deshalb die variable Möglichkeit der Bezeichnung von 4-Klängen aufwärts genutzt (Beispiel: harmonisch ist Am7 = C6 oder aber C/A)

B) Der doppelte Vorhalt

Der doppelte Vorhalt kann auch schon als eine kleine – zweistufige – Kadenz angesehen werden, kann also doppelt im doppelten Sinne sein:

a) 2 Melodie-Stufen und 2 Harmonie-Stufen. Man entfernt sich so weit vom erspürten („Erwartungsbaum“!) Ziel, dass man 2 Schritte zurück braucht.

b) Man nimmt den Schlusston vorweg, bevor man ihn verlässt und dann wieder erreicht. (Dann ist es sozusagen ein einfacher Vorhalt zur letzten Harmonie vor dem Schlussakkord!)

Einschub: Das ist ein Spezifikum der Musik im Vergleich zu den Bildenden Künsten, dass der Gang durchs Geschehen zweitlich vorgegeben ist. Bei einem Bild kann uns der Maler zu lenken versuchen, vom Hellen ins Dunkle, entlang der Diagonalen oder anderer Linien, aber trotzdem bleibt die Augenbewegung beim Betrachter. In der Musik ist der zeitliche Ablauf vorgegeben und nur die Erwartung liegt variabel beim Zuhörer.

Am besten demonstriert man das an einem einfach aussehenden, aber komplexen Beispiel:

Der Melodie-Beginn liegt auf der Terz und geht über die Sekunde sofort zur Prime. Das wäre ein melodisch doppelter Vorhal. Dann steigt die Melodie wieder über die Sekunde (als betonter einfacher Vorhalt zur Terz!) zur Terz, die etwas gehalten wird (die Begleitung bleibt bisher stets auf der Tonika!), bevor es über die Sekunde  wieder zum Schluss auf der Prime geht. Das sind nur drei verschiedene Töne, denen aber eine harmonische Spannung vor dem Schluss unterlegt wird: Der erste Akkord des dritten Taktes ist deren Höhepunkt (der in der zweiten Hälfte des zweiten Taktes schon vorbereitet wird, wo eine Schwebung zwischen Tonika und Dominante durch den Cadd9-Akkord erzeugt wird). Wie soll man nun diesen Mehrklang deuten?

a) Ist es eine Kadenz Subdominante-Dominante-Tonika? Dann hätte die Subdominante zusätzlich zum Dreiklang (dem allerdings die Terz fehlt) die Sexte (Tredezime) und die Große Septime und könnte als Fmaj7add13/C geschrieben werden.

b) Ist es ein „verwurschtelter“ Dominant-Akkord vor dem „richtigen“? Dann könnte er als G7sus4add6/C geschrieben werden, dem allerdings die Prime (!!) fehlt.

c) Ist es eine Kadenz „2-5-1“ der Stufenharmonik? Dann wäre es Dmmaj7add6/C, dem die Quinte fehlt.

d) Der Bassgang (tiefster Ton) zeigt im dritten Takt an, dass es ein Doppelvorhalt sein soll, der den Schlusston (die Auflösung) wie „hypothetisch“ vorwegnimmt. Dann wäre es eine verquere Tonika der Art Cadd9sus4 ohne Quinte.

Der obere Ton im Bass-Schlüssel präferiert als d (er wechselt also schon vor dem Bassgang und wirkt dabei selber wie ein Vorhalt) allerdings die Varianten b) und c), wobei immer noch eine Mehrdeutigkeit bleibt.

Ist das  nicht herrlich, wie durch die Viel-(hier etwa Vier-)deutigkeit der stets mitlaufende Erwartungsbaum kräftig geschüttelt wird, bevor sich alles in „Harmonie“ auflöst? Zum Glück ist sowohl unser „Jetzt“-Empfinden als auch unser Kurzzeitgedächtnis so eng miteinander verwoben, dass wir im Nachhinein alles verstehen und in der zweiten Strophe (oder in der Durchführung oder in der Reprise) mit Vorfreude auf diese harmonische Stelle oder ihre Variation (zum Beispiel im Jazz) warten können.

AUFGABE

Probiere selber aus, wie man einfache Kinderlieder so mit Spannung übeladen kann, dass man sie harmonisch kaum wiedererkennt. Sollte dir das peinlich sein, mach es in der Stille; es ist aber überaus hilfreich! Nur wenn man einfach anfängt, kann man sich steigern. Wer gleich zu hoch greift, gibt bald im Labyrinth der Missverständnisse auf…

C) Der Orgelpunkt

Das ist so etwas wie ein Gegenteil des Vorhalts, man bleibt nämlich mit der Melodie auf einem Ton stehen und lässt sich die Harmonien ändern, wobei es durchaus auch besondere Möglichkeiten der Verschärfung der Vorschriften (also der Einschränkung der Möglichkeiten) gibt, zum Beispiel einen chromatischen Bassgang.

Als Orgelpunkt eignen sich natürlich die drei Töne des Dreiklangs hervorragend:

Prime

(kommt noch)

Terz

Manchmal wird der Orgelpunkt auch ein wenig umspielt, um kontrapunktisch noch mehr Bewegung hineinzubringen, wie zum Beispiel bei (u.a. Frank Sinatras) „My way“. Die Notierung der Harmonien ist durch ihre Mehrdeutigkeit manchmal schwer vergleichbar, je nachdem, ob sie auf Basstöne oder Gittarre-Griffe Rücksicht nimmt oder diese getrennt angibt.

Nach dem Auftakt liegt die Melodie drei Takte lang auf der Tonika-Terz und wird auf dieser mit dem Bass chromatisch absteigend begleitet: Oktave, Große Septime, Kleine Septime. Als Harmonien lässt sich das unterschiedlich schreiben:

Tonika, Tonika mit Großer Septime, Tonika mit Kleiner Septime (D; Dmaj oder F#m/C#; D7 oder F#m7b5/C)

Dann geht es in die Kleine untere Dur-Mediante B7, die in Takt 4 als Dominante für die Stufe 2 (Em als neue Zwischentonika, auf deren Terz wiederum der Orgelton der Melodie liegt) in Takt 5 dient, von wo die Dominanttreppe wieder zurück zur Grundtonart führt, wobei die Terz der Stufe 2 in Takt 8 als Vorhalt für jene der Stufe 1 dient:

B7; Em; Em/D;  A7/C#; D

Die Melodie leitet den 8. Takt also mit einem Quartvorhalt für die Terz ein, was ein Signal ist, dass es nun anders weiter geht, nämlich als gefühlte Dramatik-Steigerung auf der Quinte als Orgelton, jedenfalls für zwei Takte:

(D, Dmaj); D7; G; Em7b5; D/A; (A7sus4, A7); Em/D; D

Im gesamten vorletzten Takt wieder ein starker Sekund-Vorhalt mit Vorwegnahme der Tonika im Bass.

(Der B-Teil ist dann anders aufgebaut…)

Quinte

Duke Ellington mit dem C-Jam-Blues von J.W.Pepper hat das richtig ausgekostet, wenn er rhythmisch versetzten Tonwiederholungen auf der Tonika-Quinte manchmal die Oktave folgen lässt und das wie folgt im Blues in zwölf Takten raffinierter als Pepper unterlegt (man kann es natürlich weiter verfeinern, z.B. in Takt 1 Cmaj statt C7 und in Takt 12 G+ statt G7 nehmen u.v.a.m…):

 

 

Hier also die Stellung des Tones g während der harmonischen Umdeutung:

1 Tonika (Quinte)

2 Subdominant-Septakkord (None)

3 Tonika (Quinte)

4 Tonika-Septakkord (Quinte)

5 Subdominant-Septakkord (None)

6 Subdominant-Moll-Septakkord (None)

7 Tonika (Quinte)

8 Dreifachdominante (=Mediante) (Kleine Septime)

9 Doppeldominante Moll (Quart-Vorhalt)

10 Dominante (Oktave)

11 Tonika (Quinte)

12 Dominant-übermäßiger Dreiklang (Oktave)

Takt 12 ist „am schärfsten“, weil er gleich zwei Leittöne enthält, denn Terz und übermäßige Quinte (untereinander also eine Große Terz) werden in der Auflösung einen Halbton höher zur Großen Terz des Tonikadreiklangs: Prime und Terz der Tonika.

Ein Bassgang lässt sich leicht im Walking-Bass-Modus finden mit schönen chromatischen Stellen!

Ich bevorzuge diese Variante persönlich, viele Jazzer fühlen aber mehr „Groove“ in der einfacheren Ausgangs-Form:

Takt 1 bis Takt 4 Tonika-Septakkord

Takt 5 bis Takt 6 Subdominant-Septakkord

Takt 7 bis Takt 8 Tonika-Septakkord

Takt 9 Doppeldominant-Moll-Septakkord = Subdominant-Sextakkord

Takt 10 Dominant-Septakkord

Takt 11 bis Takt 12 Tonika-Septakkord (Schluss also als 2-5-1-Kadenz)

(Es fehlen sowohl Short-Cut als auch Turn-Around als auch weitere Verfeinerungen. Dieses allgemein bekannte Blues-Grund-Schema wird dann eben auch melodisch auf das Minimum von zwei Tönen – Quinte und Oktave der Tonika – heruntergefahren, was natürlich als Ausgangspunkt für Improvisationen ideal erscheint, weil viele Steigerungskurven je nach Laune der Musiker und Feedback des Publikums möglich sind!)

D) Sequenz von Melodie-Teilen

Es wirkt sehr „verbindlich“, wenn der Zuhörer in mehrere gleichzeitig ablaufende „Strukturen“ eingebunden wird, zum Beispiel alle zwei Takte die gleiche steigende Melodie (erste Stimme!) einen Ton nach unten rückt, die zweite Stimme jeweils dagegen läuft und die Begleitharmonie samt Bassgang durch den Quintenzirkel spaziert. Wenn gleichzeitig mit Vorhalten bearbeitet wird, scheint sich die Auflösung immer wieder weiter zu vertagen.

Ein schönes Beispiel gibt dafür der Eric-Clapton-Titel „Autumn Leaves“ ab:

A-Teil (Satz: J.Ad.):

Der Auftakt des 4/4-Taktes beginnt auf dem 2. Viertel in der Grundtonart (Moll) mit den ersten drei Tönen der Tonleiter und springt dann im Volltakt auf die ausgehaltene Sexte. Diese wird umfunktioniert als Terz der Subdominante, was den Beginn nachträglich zu Dominante der „neuen Tonika“ (wieder in Moll) macht.

Während also die Terz ausgehalten wird, können sowohl die Zweitstimme (absteigend gegen die vorher aufsteigende Erststimme) als auch die aufsteigende Bass-Begleitung die Dominanttreppe den weiteren Schritt hinabgehen (nun zu Dur!). Das geht genauso 2 Quintenzirkel-Schritte weiter. (Remember! Zwei harmonisch gemeinte Quinten sind zwar eine None und aber melodisch auch als Sekunde zu fassen!)

Am Ende aber wird alles umgedeutet: Die Sexte von C-Dur wird nicht als Terz von F-Dur verwendet (so ginge die Dominanttreppe eigentlich weiter!), sondern als Terz in Fis-Dur mit dem Vorhalt der verminderten Quinte (F#7b5=Am6/F#), die als c Gleitton für das h (deutsch) in B7 (amerikanisch) des folgenden Taktes als Dominante zur Grundtonart e-Moll dient.

 

Fortsetzung folgt…

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