Joachim Adolphi

Struktur als Protokoll des Werdens


2.4.1.2 Federlinien und Federflächen

Frage:

Kann man „voraussehen“ oder sogar „vorausfühlen“, wie sich flächige elastische Gebilde verhalten, wenn sie zum Beispiel der Schwerkraft ausgesetzt sind? Sind das „Strukturen“?

Was ist eine „Federfläche“? Es geht nicht um Vogelfedern, sondern um eine flächige Anordnung von linearen Federn (eigentlich ein „Feder-Netz“), also ein gekreuztes Muster von einzelnen Federn, um studieren zu können, was für „Strukturen“ entstehen können, wenn in den Kreuzungspunkten der Federn träge und schwere Massen hängen.

Das wäre ein Modell für durch Kräfte verbundene Moleküle einer dünnen Haut zum Beispiel. Man kann aus Seifenblasen schöne Gebilde erzeugen, die als Probe dienen könnten. Und wir könnten auch, wenn wir die Gesetze erkannt haben, solche Flächen (es sei schon verraten, dass sie sehr ästhetisch sind) modellieren.

Aber vorher wollen wir schrittweise modellieren und experimentieren.

Wie immer geht es einfach los, so einfach wie möglich.

Zuerst hängt man eine einzelne Masse an eine einzelne Feder – dann macht man eine Kette aus Federn und Massen  (einseitig oder beidseitig aufgehängt) – und zum Schluss wird ein rechteckiges Netz von Federn und Massen geknüpft.

Das Ganze soll natürlich berweglich sein, also zum Beispiel durch die Schwerkraft nach dem Lösen aller festhaltenden Klinken nach unten fallen und schwingen können. Und für den letzten Rest an Realität soll die Schwingung auch noch durch Reibung gedämpft werden können. Als „Störungen“ könnten wir zum Beispiel einfach mitten im erreichten Gleichgewicht die Federkonstante oder die Länge der Federn ändern und sehen, was dann passiert.

Ein schöner, umfangreicher und sehr komplizierter Plan, oder? (Man sollte sich nicht von mir täuschen lassen: Ich bin zu faul oder zu blöd oder zu ungeschickt, das hochkomplexe Gleichungssystem einer Federkette oder gar einer Federfläche zu lösen, um den eingeschwungenen Zustand – also den im Gleichgewicht –  zu berechnen. Also nutze ich nur das Hookesche Gesetz, berechne für jede Masse die resultierende Kraft aus Schwerkraft und den vier Federn aus den vier Abständen – natürlich alles vektoriell – und bestimme die resultierende Beschleunigung aus dem Newtonschen Gesetz und integriere die Beschleunigung zweimal numerisch – siehe dort! – in einem vorgegebenen Zeittakt und erhalte zu jeder Zeit die Orte aller Teilchen. Um das Ganze zu beruhigen, dämpfe ich die Geschwindigkeiten – erste der beiden Integrationen – durch eine gedachte geschwindigkeitsproportionale Reibung, und schon entsteht am Ende ein eingeschwungener Zustand als quasi-physikalische Lösung eines mathematischen Problems! Hat man das einmal erfolgreich gemacht, kann daraus eine Sucht entstehen – Warnung an die Nachahmer!!!)

Also los!

Ausgangspunkt ist das Hookesche Gesetz, nach dem ein linearer Zusammenhang zwischen mechanischer Spannung und Dehnung angenommen wird: Je größer die Kraft auf eine Feder, desto größer ihre Längenänderung (gilt für Dehnen und Stauchen gleichermaßen!). Der Proportionalitätsfaktor ist die sogenannte Federkonstante oder der Elastizitätsmodul („E-Modul“).

Hängt man eine Masse an eine Zugfeder, so wird diese durch die Schwerkraft der Masse gedehnt, bis die entstandene Federkraft der Schwerkraft entgegengesetzt gleich ist. (Ihre eigene Federmasse denken wir uns klein und lassen sie weg.)

Denken wir sie uns still im Gleichgewicht hängend und zupfen dann daran, können wir uns leicht vorstellen, dass sie ein wenig schwingt und dann wieder am selben Ort still hält. Das wäre also „reproduzierbar“ und somit kein Zufall, also ein Gesetz (eben das Hookesche).

Denken wir etwas systematischer nach, fällt uns auch das Newtonsche Gesetz über den Zusammenhang von Kraft und Beschleunigung ein. Beschleunigung ist die Änderung der Geschwindigkeit in der Zeit, und Geschwindigkeit ist die Änderung des Ortes in der Zeit. Beschleunigung ist also die Änderung der Änderung des Ortes in der Zeit, also eine Änderung zweiten Grades. Grafisch wäre das die Änderung der Änderung des nach oben gezeichneten Funktionswertes, also die Änderung des Anstiegs einer Funktion, also ihre Krümmung.

Und diese Krümmung der Ort-Zeit-Funktion ist nun dem Ort selbst proportional, und zwar rücktreibend, also negativ!

Genau dieser Zusammenhang tritt immer dann auf, wenn etwas „schwingen“ kann. Man muss also die „Schwingungsgleichung“ lösen, wenn man einen mathematischen Ausdruck für die physikalische Größe bekommen will, die da schwingt. Man erhält bei der Lösung dieser Gleichung über die charakteristischen Größen des Systems (zwei Speicher – hier die zu beschleunigende Masse mit ihrer kinetischen Energie und die Feder mit ihrer potentiellen Energie, die einen wechselnden Energie-Austausch betreiben), aus denen die charakteristischen Größe der Schwingung folgt: die Frequenz. (Die Amplitude erhält man aus zusätzlichen Informationen, zum Beispiel über die Anfangslage der Masse und ihre Anfangsgeschwindigkeit.

(Zum Vertiefen siehe „Schwingungsgleichung für Anfänger“!)

Das kann man nun koppeln zu mehreren Federn und Massen und sein Spielchen treiben. Hier ist es wie stets in dieser Abhandlung mit einer Bedien-Oberfläche gemacht, auf der man unmittelbar im Prozess die Größen verändern kann, die eine Rolle spielen.

Wenn man Geduld hat und das System „ausschwingen“ lässt, so entsteht der Gleichgewichtszustand, bei dem in jedem Punkt die Summe aller angreifenden Kräfte Null ist und also keine Beschleunigung mehr existiert. Stellt man dabei ein solches Verhältnis zwischen

Federlänge im entspannten Zustand, Federkonstante, Masse und Erdbeschleunigung

ein, das einer starren Kette nahe kommt, kann man sogar eine Näherung an die mathematische „Kettenlinie“ erzeugen, wie der Vergleich mit der analytischen Fuktion zeigt:

Federkette mit langsam schrittweise reduzierter Schwerkraft, noch nicht vollständig ausgeschwungen (mittlere Masse noch etwas zu weit links!)

Daten von links entnommen und mit der analytischen Funktion verglichen


Sobald man aber die Schwerkraft wieder stärker auf die Federn wirken lässt, verlässt man die ideale Kettenlinie, weil die Federn gedehnt werden, besonders natürlich die weiter oben liegenden: Aus der bekannten „Kettenlinie“ wird die neu eingeführte „Federkettenlinie“:

„Echte“ mathematische „Kettenlinie“ ohne Federwirkung

Echte Federkettenlinie mit Schwerkraft UND Federkraft

Federkettenlinie mit erhöhter Schwerkraft


Hier sieht man also die Entwicklung der Federkettenlinienform in Abhängigkeit von der Schwerkraft. Ganz oben die „echte“ Kettenlinie ohne Verlängerung der Federn: Sie wurde im Programm mit Trick erzeugt: Bei gegebener Federkonstante wurde nach dem Ausschwingen die Schwerkraft weggenommen, so dass sich die Federn zusammenziehen konnten. Bei der roten Kette wurde die seitliche Verlagerung der Verknüpfungspunkte vernachlässigt, als ob die Punkte nur auf senkrechten Schienen laufen könnten. Es entsteht anstelle der Kettenlinie eine Parabel, wenn die ungespannte Feder die Länge des Aufhängungs-Abstands hat.

Den zeitlichen Prozess des Einschwingens aus der Ausgangslage (waagerecht) zeigt die nächste Bildfolge:

Federkette kurz nach dem „Ausklinken“

Federkette im „Fallen“

Federkette ausgeschwungen


Mit anderen Parametern kann das auch anders aussehen:

Federkette startend: Zuerst fallen die mittleren Massen noch einfach, bevor die Federn Zugkraft entwickeln können

Federkette ausgeschwungen. Zwei Federkettenlinien: schwarz die „echte“ mit waagerechten und senkrechten Kraftkomponenten, rot die idealisierte mit nur senkrechten Komponenten und Identität von Start-Abstand und Federlänge. Die echte „Kettenlinie“ würde mit festen Verbindungen konstanter Länge entstehen und läge wiederum darüber.

Federkette schräg aufgehängt ausgeschwungen (mit Hilfslinien)

Wie man leicht erkennen kann, sind hier zwar „schöne“ Kurven entstanden, als „Struktur“ könnte man aber wohl nur die zeitliche Struktur der Schwingung als solcher bezeichnen, die eine Überlagerung der reinen Schwingung und der Dämpfung (siehe „Dämpfung für Anfänger„!) ist und manchmal auch von Wellen (transversal und longitudinal gemischt, siehe „Wellen für Anfänger„!) begleitet sein kann.

Geht man nun zur zweidimenionalen Aufhängung von „Federflächen“ über, so hängen diese in die dritte Dimension hinein, was man als lebenslang geübter Flachbildbetrachter aber richtig zu interpretieren in der lage ist.

Federfläche wenig gedämpft, leicht schwingend

Federfläche mit waagerechtem rechteckigem Rahmen, ausgeschwungen, also im Gleichgewicht

Federfläche kurz vor der Resonanz-Katastrophe (Taktzeit-Artefakt!)

rechteckige Federfläche mit schräger Aufhängung

Aus dem dritten der vier Federflächenbilder lernt man vor allem, dass die zeitliche Diskretisierung des Ablaufs zu Artefakten führen kann, weil sie während jeden Taktes von konstanten Größen (besonders von konstanter Geschwindigkeit) ausgeht, was zu „überproportionalen“ Änderungen der Ursachen für die nächste Wirkung führen kann. Aus diesem Grunde sind alle Video-Stills von Schwingungs- und Wellenfiguren solcher Modelle mit Vorsicht zu genießen.

Folgt man dann einfach der Theorie und beschränkt sich auf die Visualisierung von Gleichgewichts-Minimalflächen, so kann man das Spiel ja mit anderen geometrischen Parametern treiben:

Wir nehmen zwei Kreise und spannen zwischen beiden elastische Fäden und kümmern uns nicht um Schwerkräfte und Bewegungen, sondern verdrehen und verschieben und kippen die beiden Kreise zueinander und beobachten, was wohl passiert. Schon da kann man sein ästhetisches Wunder erleben (winziger Auszug aus den mit den Maustasten zu bewerkstelligenden Operationen in einer Fernschiel-Stereo-Ansicht, die ich mir wegen meiner schwachen 3D-Vorstellungskraft als Hilfsmittel programmiert habe – sollten die Bilder zu groß erscheinen, weiter weg gehen vom Bildschirm oder besser kleiner scrollen):

Zylinder

Rotations-Hyperboloid: Endflächen des Zylinders parallel verdreht

Endflächen des Hyperboloids gekippt

Endflächen des 90° gekippten Hyperboloids verschoben: Oloid (d.h. nur die Linien auf der Umhüllenden sind gezeichnet)

Will man einen solchen Körper (Oloid) selber „aus dem Ganzen“ feilen oder schleifen, so erfordert das ein gutes Auge und geschickte Handgelenke und Finger, um den Vorteil, dass es ja überall Geraden in der Oberfläche gibt, auch nutzen zu können. Habe das mit dem weichen Lagenbaryt des Osterzgebirges versucht:

Oloide: Papiermodell als Nachweis der Abwickelbarkeit, Holzmodell gekauft, 3 Baryt-Modelle selbst geschliffen aus Eigenfund in Reichstädt/Osterzgebirge

Mit Seifenhäutchen kann man schön spielen, sie ziehen sich immer zur minimalen Oberfläche zusammen. Ein Hyperboloid ist da kein besonderes Thema. Was ist aber mit geschlossenen Seifenblasen? Die müssen ja ein Luftvolumen einschließen, das sie durch ihre Spannung unter Druck setzen.

Spannende Frage:

Was passiert, wenn sich zwei Seifenblasen berühren und ein gemeinsames Zwischenhäutchen bilden?

Das kann man in der Badewanne ausprobieren, indem man Luftblasen aufsteigen lässt, die an der Oberfläche nicht platzen. Berühren sich zwei unterschiedlich große halbkugelförmige Blasen, ist das Trennhäutchen zur großen hin durchgebogen! Die kleinere hat also den größeren Druck! Das kommt von ihrer größeren Krümmung.

Strohhalm-Blubber-Seifenblasen im Wasserglas: im Mittel sechseckig durch die Dreierzwickel bei ähnlicher Größe, Zwischenwände zur großen hin gebogen

Der gleiche Versuchsaufbau scheint zu sein, zwei unterschiedlich aufgeblasene Luftballons gleicher Art miteinander zu verbinden: Der kleinere bläst den größeren noch weiter auf! Hier aber sind zusätzlich noch andere Ursachen am Werke, denn auch der schlaffe Luftballon hat noch ein Innenvolumen größer Null und die Spannung der Haut kommt nicht nur von der Krümmung, sondern auch von der Dehnung. Und trotzdem bekommen kleine Kinder es noch nicht hin, den Ballon von Anfang an aufzublasen, weil da der Druck am größten ist; die Fortsetzung fällt ihnen dann leichter.

Fazit:

Ja, es bilden sich ganz „besondere“ Formen, wenn sich ein elastisches Gebilde im energetischen Minimalzustand (potentielle Energie der Schwere UND der Elastizität) befindet, und sogar die Schwingungen um diesen Zustand können „besonders“ sein. Und durch unsere animalische Erfahrung (des Tast- und des Sehsinns) können wir auch ohne Mathematik-Professur ahnen, welche ästhetische Schönheit entstehen müsste. Ein sicheres Modellier-Ergebnis erhält man mit einem dynamisch gedämpften System druch Integration der Bewegungsgleichungen.

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